Die russischen Streitkräfte haben am Montagmorgen mindestens 84 Raketen auf ukrainische Städte abgeschossen. Mehr als die Hälfte davon wurde von der Flugabwehr abgefangen. Putin droht inzwischen mit weiteren, noch härteren Schlägen.
Militäranalysten bezeichnen den Raketenbeschuss vom Montag als die schwersten russischen Luftangriffe seit Beginn des Ukraine-Krieges. Angegriffen wurden neben Kiew auch andere ukrainische Städte. Laut Walerij Salushnyj, dem Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, schoss die Luftabwehr 43 der abgefeuerten 83 Raketen ab. Die Russen hätten auch bewaffnete Drohnen eingesetzt. Die Angriffe sind eine Antwort auf das Attentat auf der Krim-Brücke vom vergangenen Samstag. Am Montagabend wurden Angriffe mit bewaffneten Drohnen iranischer Bauart auf die Stadt Kryvyi Rih im Oblast Dnipropetrovsk gemeldet.
«Angriffe mit Hochpräzisionswaffen»
Putin hat am frühen Montagnachmittag von St. Petersburg aus seinen Sicherheitsrat zu einer Video-Schaltkonferenz versammelt. Dabei sollen weitere Massnahmen gegen die Ukraine erörtert werden. «Das Kiewer Regime hat sich durch sein Handeln auf eine Stufe mit internationalen terroristischen Gruppen gestellt. Es ist nicht mehr möglich, solche Verbrechen unbeantwortet zu lassen», sagt er. Deshalb habe man am Montag «im Rahmen der militärischen Spezialoperation Angriffe mit Hochpräzisionswaffen auf die ukrainische Infrastruktur – Energie-Infrastruktur, Militärverwaltung und Kommunikation – ausgeführt». Putin drohte mit einer weiteren «noch härteren Reaktion», wenn erneut «terroristische Anschläge auf russisches Hoheitsgebiet» durchgeführt würden.
Sanfte Rhetorik?
Putin sagte, die russischen Angriffe am Montagmorgen seien «auf Vorschlag des russischen Verteidigungsministeriums und gemäss dem Plan des Generalstabs der Russischen Föderation erfolgt. Die Nato und insbesondere die USA erwähnte Putin nicht. Auch Hinweise auf einen möglichen Einsatz von taktischen Atomwaffen fehlten. Beobachter erklärten, die Rede des Kreml-Chefs sei im Vergleich zu frühren Tiraden und Anschuldigungen «realtiv sanft» gewesen.
Ukrainische Medien berichteten zunächst von 14 Todesopfern in Kiew, gehen aber davon aus, dass die Zahl der Toten steigen wird. 60 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, Dutzende andere sind traumatisiert.
Die Angriffe zielten darauf ab, zivile Ziele zu treffen und die Energieversorgung vor dem nahenden Winter lahmzulegen. Die Angriffe in Kiew erfolgten, während Tausende Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule waren. Eine Rakete schlug auf einem Kinderspielplatz in Kiew ein.
Ein weiteres Geschoss schlug in eine Fussgänger-Brücke im Zentrum von Kiew. Die Brücke ist nach dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko benannt.
Die Anschläge zeigen, dass Russland trotz Niederlagen auf dem Schlachtfeld in der Lage ist, tief in die Ukraine einzudringen und die Bevölkerung zu terrorisieren.
Der ukrainische Ministerpräsident Denys Shmyhal sagte, elf wichtige Infrastruktur-Einrichtungen in acht ukrainischen Regionen und in der Hauptstadt Kiew wurden unter Beschuss genommen. «Einige Gebiete sind abgeschnitten», sagte Shmyhal. Das Personal arbeite daran, die Versorgung wiederherzustellen.
Der ukrainische Präsident Wolodimyr Selenskyj erklärte am Montag früh, die Russen hätten neben Kiew auch Lwiw (Lemberg), Dnipro, Winnyzja, Saporischschja, Charkiw und andere Regionen beschossen. Ziele sind offenbar unter anderem Kraftwerke, Brücken und andere zivile Infrastrukturen.
«Sie wollen Panik und Chaos, sie wollen unser Energiesystem zerstören. Sie sind hoffnungslos», sagt Selenskyj in einer Video-Botschaft, die er in den Strassen von Kiew aufgenommen hatte.
Zweites Ziel sei, Panik unter der Bevölkerung zu entfachen, erklärte der Präsident. «Dieser Zeitpunkt und diese Ziele wurden speziell ausgewählt, um so viel Schaden wie möglich anzurichten», schrieb er und rief die Menschen auf, in den Bunkern Schutz zu suchen. Nach Angaben des Bürgermeisters von Lwiw, Andrij Sadowyj, ist ein Teil der Stadt ohne Strom. Auch die Warmwasserversorgung sei ausgefallen.
Patriotische ukrainische Lieder
Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer versammelten sich am Montagmorgen in den Metro-Stationen von Kiew und sangen dabei patriotische ukrainische Lieder.
Auch Kultureinrichtungen wurden getroffen. Das Taras-Schewtschenko-Museum, das dem ukrainischen Nationaldichter gewidmet ist, sei beschädigt worden, erklärte der ukrainische Kulturminister Oleksandr Tkachenko, ebenso das Chanenko-Kunstmuseum und das Gebäude, in dem die Philharmonie des Landes untergebracht ist.
«Schreckliche, wahllose Angriffe auf zivile Ziele»
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Russlands «schreckliche und wahllose Angriffe auf die zivile Infrastruktur in der Ukraine» vorgeworfen. Er erklärte, das Militärbündnis der Nato werde die Ukraine weiterhin bei der Abwehr der Aggression des Kremls unterstützen.
«Da sich die russischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld zunehmend blamieren, sind sie nun dazu übergegangen, wahllos zivile Ziele im ganzen Land anzugreifen», erklärt ein ukrainischer Beamter. Damit verletzten sie die Genfer Konventionen, die nur Angriffe auf militärische Ziel erlauben, aufs Schärfste.
«Terror, Brutalität»
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, die EU werde der Ukraine so lange zur Seite stehen, «wie es nötig ist». Russland stünde für «Terror und Brutalität». Von der Leyen befindet sich auf einem Besuch in Estland. Der estnische Präsident Kaja Kallas sagte, die westlichen Verbündeten müssten Luftabwehrsysteme an die Ukraine liefern, «damit die Ukrainer ihre Städte und ihre Zivilisten schützen können, denn Russland eskaliert definitiv, um die Zivilisten zu schädigen».
Medewedew: «Das war nur der Anfang»
Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew schrieb auf Telegram, «der ukrainische Staat in seiner derzeitigen Form ist eine ständige, direkte und eindeutige Bedrohung für Russland». Die Bombenangriffe vom Montag seien «die erste Episode gewesen – aber nicht die letzte. Es wird noch andere geben». Das Ziel der «künftigen Massnahmen sei «die vollständige Zerschlagung des ukrainischen politischen Regimes».
Der ukrainische Geheimdienst SBU hat inzwischen Medwedew zur Fahndung ausgeschrieben. Nach Paragraph 110 Absatz 2 des ukrainischen Strafgesetzbuches droht ihm eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren.
Peking hat unterdessen zur Deeskalation in der Ukraine aufgerufen.