Die 30 Jahre im Bundesarchiv gesperrten, aussenpolitisch relevanten Dokumente der Schweiz werden jedes Jahr von Dodis (www.dodis.ch), einer Abteilung der Akademie der Geisteswissenschaften, aufgearbeitet. Die Edition 1995 enthält einige Perlen.
Das innenpolitisch wohl wichtigste Buch des Jahres 2025 legte der ehemalige Diplomat und Bundeskanzler Walter Thurnherr vor: «Wie der Bundesrat die Schweiz regiert, und weshalb es trotzdem funktioniert» beschreibt die Mechanik ebenso wie das Menschliche in der schweizerischen Regierungsführung. Was naturgemäss fehlt, sind konkrete Beispiele mit Namen. Die liefert Dodis mit ebenso naturgemässer 30-jähriger Verspätung nach.
Die Schweiz und das Ende des 2. Weltkrieges
1989 hatte die Schweiz als wohl einziges Land der Welt den Ausbruch des 2. Weltkrieges mit «Diamant» gefeiert; dies unter dem Banner des 50. Jahrestages der Mobilmachung von 1939. Mit der weltweit begangenen 50-Jahr-Feier zum Kriegsende 1945 tat sich insbesondere der Bundesrat schwerer. Nach anfänglichem Zögern erzwang das Parlament eine Sondersession zu diesem Anlass, was in einem Dodis-Dokument nüchtern so erscheint:
«Die Schweiz, die vom Zweiten Weltkrieg verschont blieb, feiert den Jahrestag des Kriegsendes mit einer Sondersession der Vereinigten Bundesversammlung und des Bundesrats. Bundespräsident Villiger entschuldigt sich für die Rückweisung der jüdischen Verfolgten, dankt jenen Menschen und Völkern, die für den Frieden gekämpft haben, und den Schweizer Frauen und Männern, welche viel für das eigene Land in diesen schwierigen Zeiten geleistet hatten. Sie sind auch in der heutigen Zeit mit ganz anderen Problemen ein Vorbild.»
Weitere Dodis-Dokumente sind da aussagekräftiger, so die entsprechenden Protokolle der Diskussionen, welche dieser Sondersession vorangegangen waren. Ebenso der Beschluss, dass sich die Schweiz am wichtigsten dieser Anlässe in Paris, am Waffenstillstandstag vom 15. Mai auf höchster Ebene, also mit dem damaligen Bundespräsidenten Villiger, vertreten liess. Hier fehlt in Dodis auch nicht das Bild der schweizerischen Fahne inmitten jener aller anderen feiernden Länder.
Srebrenica und Neutralität
In der Folge der Massaker von Srebrenica im Frühsommer 1995 zwang die Nato unter der Anführung der USA im Rahmen der Operation «Deliberate Force» die ex-jugoslawischen Kriegsparteien zum Abkommen von Dayton. Diese Militäraktion brachte die offizielle Schweiz dazu, von einem bislang geheiligten Prinzip der Neutralität abzurücken, indem der Bundesrat die Erlaubnis erteilte, Waffen und Truppen der NATO durch die Schweiz transportieren zu lassen. Unter dem Eindruck der entsetzlichen serbischen Kriegsverbrechen in Bosnien wäre offensichtlich ein entsprechendes Verbot im Ausland wie im Inland nicht vermittelbar gewesen. Wiederum gibt ein BR-Protokoll interessanten Aufschluss über die diesem Entscheid vorangegangene Beratung im Bundesrat.
Ein weitergehendes Engagement der Schweiz zugunsten der «Implementation Force» zur Durchsetzung des Dayton-Abkommens, im Bundesrat gemeinsam vorgeschlagen von Aussenminister Cotti und Verteidigungsminister Ogi, fand dort allerdings keine Zustimmung mehr. Das wäre eine ideale Vorbereitung gewesen für die später geschaffene internationale Kosovo-Schutztruppe, welcher auch schweizerisches Militär angehört.
Aus heutiger Warte lässt sich fragen, ob den aktuellen Kriegsverbrechen von Putins Russland in der Ukraine nicht auch mit Augenmass in der praktischen Anwendung von Neutralität begegnet werden sollte. Dies wiederum aus aussen- als auch innenpolitischen Gründen: Dogmatische Anwendung von Neutralität verärgert die wichtigsten Partnerländer der Schweiz und lässt eine Mehrheit in der Schweiz ratlos zurück angesichts von offensichtlich fehlender Unterscheidung zwischen Aggressor und Opfer, wie das die Uno-Charta zwingend vorschreibt.
China, Saudi-Arabien und Neutralität
Sehr neutral im traditionellen Sinne dann wiederum ein wenig bekannter, aber durch Dodis nun publik gemachter Zwischenfall, als dem Präsidenten von Taiwan, privat eingereist zur Teilnahme am internationalen Forum von Montana Crans, ein Gespräch mit Villiger in Aussicht gestellt worden war. Im Vorfeld bekam dann der Bundesrat mit Blick auf eine voraussichtliche heftige Reaktion von Beijing kalte Füsse, sagte das Treffen wieder ab und schickte Staatssekretär Blankart nach Taipeh, um die Scherben zu kitten.
Umgekehrt: Aussenpolitisch eher mutig war die damalige schweizerische Initiative zur Schaffung einer Menschenrechtsgruppe im Rahmen des Multilateralen Friedensprozesses im Nahen Osten. Sondierungsgespräche von Staatssekretär Kellenberger auf der arabischen Halbinsel, namentlich in Saudi-Arabien, prallten aber schnell an die Wand islamischer Vorbehalte auf gegen «westliche» Menschenrechtskonzepte.
EU
Wer die aktuelle schweizerische Aussenpolitik verfolgt, wird in Dodis 1995 einige aussenpolitische Dauerbrenner vorfinden. Dazu gehören an erster Stelle die Beziehungen der Schweiz zur EU, welche sich in den 90er Jahren zwischen dem politischen Hammer des EWR-Neins von 1992 und dem Amboss der absoluten wirtschaftlichen Notwendigkeit zum Anschluss an den entstehenden europäischen Binnenmarkt befanden. Zahlreiche Dokumente zeigen, wie schwierig auch und gerade im Bundesrat sich die Diskussionen gestaltet hatten, welche dann 1999 zur Unterzeichnung der Bilateralen I (sieben Einzelabkommen: Personenfreizügigkeit, Landverkehr, Luftverkehr, technische Handelshemmnisse, öffentliches Beschaffungswesen, Forschung und Landwirtschaft) führten. Alpentransit und die 40-Tönner zählten zu den grössten Problemen.
Da ja aktuell das Vertragspaket der Bilateralen III heftig diskutiert wird, seien an dieser Stelle auch die Bilateralen II von 2004 (acht Einzelabkommen: verarbeitete Landwirtschaftsprodukte, Statistik, Ruhegehälter, Umwelt, Medien, Schengen/Dublin, Betrugsbekämpfung, Zinsbesteuerung, Bildung/Berufsbildung/Jugend) erwähnt. Beide Pakete wurden verfassungskonform dem fakultativen Referendum unterstellt und beide wurden mit beträchtlichen Volksmehrheiten an der Urne genehmigt. Dass die Bilateralen III heute dem obligatorischen Referendum, also auch dem Ständemehr unterstellt werden sollen, ist eine verfassungswidrige Forderung der Europagegner, welche hoffen, via konservative Standesstimmen eine voraussichtliche Volksmehrheit zu sabotieren.
Schliesslich: OSZE
1996 übernahm die Schweiz ein erstes Mal den Vorsitz der OSZE, 2026 wird dies ein drittes Mal der Fall sein. Die Ausgangslage war beim ersten Mal allerdings viel komfortabler. Die Organisation war ein zentraler Begegnungs- und Verhandlungsort, wo ausnahmslos alle europäischen Länder, eingeschlossen Russlands vertreten waren. Entsprechend reiste Aussenminister Cotti schon 1995 in die Hauptstadt der wichtigsten Länder, um den Spielraum für weitere Fortschritte im gesamteuropäischen Friedensprozess auszuloten. Heute dürfte Aussenminister Cassis seinen letzten Tessiner Vorgänger beneiden; Boris Jelzin war damals Präsident Russlands und nicht der Kriegstreiber Putin, moskaufreundliche Regierungen wie heute in Ungarn und der Slowakei waren undenkbar.
Dodis 1995 ist ein gedruckt stattlicher Band für Spezialisten und solche, die sich in die Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik vertiefen wollen. Diese gab und gibt es sehr wohl, entgegen dem wohlfeilen Vorurteil, die beste Aussenpolitik der Schweiz sei es, keine zu haben. Die einzelnen Perlen lassen sich ab dem 1.1.2026 über das Netz gratis finden.