Seit einiger Zeit schon vernimmt man das Argument, Naturphänomene wie Leben und Bewusstsein seien zu komplex, als dass sie „einfach so“ in einer stumpfsinnigen Bastelei namens „Evolution“ hätten entstehen können. Man bringt diesen Einwurf gern und schnell mit dem Intelligent Design in Zusammenhang, und entwertet ihn so im gleichen Zug als dubios. Aber das Argument lässt die besten Köpfe nicht in Ruhe. Erst kürzlich hat der renommierte amerikanische Philosoph Thomas Nagel ein schmales Buch mit dem Titel „Mind and Cosmos“ (im Herbst auf Deutsch) publiziert, um das in der anglophonen Welt heftige Kontroversen entbrannt sind. Nagel moniert darin, dass der Neodarwinismus ein „in sich“ unvollständiges Paradigma sei, weil es ihm bisher nicht gelang und und auch künftig nicht gelingen werde, das Phänomen des Geistes im Kosmos zu erklären. „Es erscheint auf Anhieb höchst unplausibel, dass das uns bekannte Leben das Resultat einer Reihe physikalischer Zufälle in Verbindung mit dem Mechanismus der natürlichen Auslese ist,“ schreibt Nagel.
Das Argument der „Absoluten Ignoranz“
Das Argument ist so alt wie die moderne Evolutionstheorie. Ein früher (anonymer) Kritiker Darwins formulierte es schon 1867 scharfsichtig: „In der Theorie, mit der wir uns befassen, ist Absolute Ignoranz die Erbauerin (..) Um eine vollkommene und schöne Maschine zu bauen, ist es nicht nötig zu wissen, wie wir das tun sollen (...) In seltsamer Umkehrung der Beweisführung scheint Mr. Darwin die Absolute Ignoranz für durchaus fähig zu halten, an die Stelle der Absoluten Weisheit in den Hervorbringungen schöpferischer Fähigkeit zu treten.“
„Absolute Ignoranz“ trifft genau den Prozess der natürlichen Auslese. Evolution nicht als Big Design, auf ein Ziel hin gerichtet, sondern als Big Algorithm, von primitiven Anfängen herkommend. Die Zweckhaftigkeit eines Organismus stellt sich so gesehen als Resultat eines blinden, keinem Masterplan folgenden, vielmehr sich in unzähligen graduellen Schritten vorwärtstastenden Prozesses aus Mutation, Selektion und Adaptation dar.
Elimniert die Biologie das Zweckdenken?
Nun hat die moderne Biologie das Zweckdenken nicht „überwunden“, sie hat ein Vorverständnis, ein Paradigma in der Naturwissenschaft etabliert, das ein bestimmtes explikatives Genre favorisiert. Teleologische Erklärungen haben darin nur dann Kredit, wenn sie schliesslich in kausaler Währung zurückgezahlt werden können. Ein Beispiel: Wölfe entwickelten sich zu schnellen Rennern, damit sie geschickter jagen können. Dieses „damit“ aber befriedigt den Biologen nicht. Er möchte es durch ein „deshalb“ ersetzen. Also greift er zu einer Art Kausalerzählung im Konditional: Würden Wölfe schneller rennen, könnten sie mehr Beute machen. Zufälligerweise war die Umwelt der Urwölfe so, dass sich mehr Rudel mit flinken Mitgliedern entwickelten, deshalb sind Wölfe schnelle Renner. Keine Rede von einem „Zweck“ oder „Entwurf“ der Natur.
Die Evolutionstheorie besteht in weiten Teilen aus solchen Geschichten des „Wie hätte es sein können...“ - Geschichten mit mehr oder weniger Plausibilitätsgehalt. Richard Dawkins erzählt z.B. ein herrenwitziges Müsterchen über das Verschwinden des Penisknochens beim Menschen. Viele Säuger besitzen diesen Knochen. Warum dann das menschliche Männchen nicht, wo sich doch eine verknöcherte Dauererektion als Vorteil in der Balz herausstellen müsste? Eben nicht, meint Dawkins, denn wenn die Weibchen ihre „diagnostischen Fähigkeiten durch natürliche Auslese verfeinert“ hätten, würden sie auch Hinweise auf die gesunde Virilität ihres Partners „aus dem Tonus und der Haltung seines Penis“ ablesen können. Und deshalb erwiese sich der Verlust des Penisknochens als Vorteil, weil nur „wirklich gesunde und starke Männer einen wirklich steifen Penis präsentieren.“
Die Entwicklung zum Komplexeren
Aber zeigt denn die Entwicklung des Lebens nicht eine Prädisposition vom Einfachen zum Komplexen? Und ist das nicht ein untrügliches Indiz für das Walten einer Teleologie in der Natur? Nur dann, wen man ein solches Walten schon voraussetzt. Höhere Formen der Organisation sind kein eindeutiger empirischer Beweis für eine Teleologie. Wie der Evolutionsbiologe Allen Orr schreibt, ist die Abstammungsgeschichte voller Umkehrungen von höherer zu tieferer Komplexität. So kann eine evolutionäre Linie ein komplexes Organ wie das Auge entstehen lassen, das unter gewandelten Umweltbedingungen, z.B. in einer dunklen Höhle, sich zurückbildet. Bei Parasiten stellt man oft solche Verkümmerungen fest, die durch das Darwinsche Paradigma besser erklärt werden als durch ein teleologisches.
Die Teleologie verdankt ihre Plausibilität dem anthropozentrischen Charakter. Sie geht vom einem bestimmten Endprodukt der Evolution – vom menschlichen Geist - aus, und sichtet alles Vorgängige im Licht dieser Finalität. Eine solche Perspektive vergisst freilich, dass der grösste Teil der Evolutionsprodukte kein Bewusstsein und keine Intelligenz aufweisen, wie sie beim Menschen vorkommen. Die Zahl der Insekten- oder Pilzarten z.B. bewegt sich in Millionenhöhe. Legt man den Massstab der Quantität an, warum sollte denn nicht jede dieser Arten auch ein vorläufiges „Endprodukt“ der Evolution darstellen wie wir? Der Baum des Lebens hat nur einen Stamm, aber unüberschaubar viele Äste.
Gegen den reduktiven Naturalismus
Der Feind von Thomas Nagel hört auf den Namen „reduktiver Naturalismus“. „Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts,“ schreibt Nagel jüngst in einem kleinen Beitrag der New York Times, „hing von Beginn weg von einer entscheidenden Beschränkung ab: sie subtrahierte von der physischen Welt als Forschungsobjekt alles Mentale - Bewusstsein, Bedeutung, Absicht oder Zweck.“ Nun ist es eine Sache, zu behaupten, dass der reduktive Naturalismus beschränkt sei; und es ist eine ganz andere Sache, ein neues nicht-reduktives Paradigma an die Stelle des neodarwinistischen zu setzen. Für die Mehrzahl der heutigen Wissenschafter ist die Alternative zum reduktiven Naturalismus ein „geräumigerer“ Naturalismus. Man muss sich hier wieder einmal auf den ursprünglichen Sinn des Paradigmenbegriffs zurückbesinnen, den der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn vor fünfzig Jahren in die Diskussion gebracht hatte. Er thematisiert nämlich genau diese Schwierigkeit. Zum Markenzeichen eines erfolgreichen wissenschaftlichen Paradigmas gehört, dass es sich früher oder später mit „Anomalien“ konfrontiert sieht, mit Phänomenen also, die es nicht oder nicht genügend erklären kann. Der evolutionäre Aufstieg zum Bewusstein ist zweifellos ein solcher Problembrocken. Häufen sich die Anomalien, gerät das Paradigma in eine Krise. Symptome dafür sind philosophische Grundlagendebatten und ein Ins-Kraut-schiessen von alternativen, ergänzenden und erweiternden Erklärungsansätzen.
Ein „Entwicklungspfeil“ in den Naturprozessen
Beides beobachten wir heute in der Debatte um den Neodarwinismus. Eine erhebliche kreative Energie wird in Ideen investiert, welche dem „Entwicklungspfeil“ in den Naturprozessen Rechnung zu tragen suchen. Der mathematische Biologe Stuart Kauffman z.B. sieht den Übergang von der „primitiven“ Chemie zu komplexen stoffwechselnden Systemen mit einer ebenso gesetzmässigen Notwendigkeit ablaufen wie das Herabrollen einer Kugel auf der schiefen Ebene. Er hat dazu eine Theorie „autokatalytischer Systeme“ entwickelt. Der Paläontologe Simon Conway Morris argumentiert, natürliche Strukturen wie Auge, Neuronen, Gehirn oder Hände erwiesen sich als derart vorteilhaft, dass sie unter günstigen Bedingungen immer wieder „erfunden“ würden. Sie sind eine Art „Attraktoren“ im biologischen Entwicklungsraum. Der Biologe Daniel McShea und der Philosoph Robert Brandon schlagen ein „Zero-Force Evolutionary Law“ vor, ein Grundprinzip, das Zunahme von Vielfalt und Komplexität sogar ohne Umweltbedingungen postuliert, also quasi als der Materie innerwohnend betrachtet.
„Einsteinsche“ Demut ist gefragt
Das sind nur drei Beispiele eines buntscheckigen Unternehmens, das heute sozusagen mit Darwin über Darwin hinaus fragt. Ob sich daraus ein neues postdarwinistisches Paradigma, vielleicht sogar eine Theorie der „immanenten Ordnung der Natur“ entwickelt – wie Nagel sie nennt -, ist zukünftiger Forschung zu überlassen. Aber es gibt ein fundamentaleres Problem zu bedenken. Unser Intellekt ist ein Naturprodukt, und Wissenschafter gehen in der Regel von der stillschweigenden Annahme aus, dass dieses Naturprodukt auch irgendwie fähig sei, seine eigene Entstehung zu verstehen. Woher jedoch nehmen wir eigentlich diese Zuversicht? Wenn die Evolution ein monumentales Programm ohne Programmierer ist, wie kann dann ein einzelnes Zufallsprodukt für sich das Mandat reklamieren, dieses Programm in seiner ganzen verästelten Komplexität und historischen Tiefe zu begreifen? Vielleicht erinnert man sich hier wieder einmal an Einsteins Wort: „Das Unverständlichste am Universum ist, dass es verständlich ist.“
Solche Einsteinsche „Demut“ ist angebracht mit Blick auf jene Projekte, die sich schon im Voraus selber dazu gratulieren, die „Welträtsel“ des Universums, des Lebens und des Bewussteins gelöst zu haben. Thomas Nagel mag wie ein philosophischer Don Quichotte in dieser ruhmredigen Runde erscheinen, aber er mahnt eigentlich der Wissenschaft nur etwas an, was ihr selbstverständlich sein sollte: ihre Theorien nicht auf dogmatische Stelzen zu setzen. Die Geschichte der Wissenschaft ist auch eine Geschichte unbeantworteter Fragen. Jeder Fortschritt schreibt ein weiteres Kapitel dazu.