
Dass auch Marcel Duchamps jüngste Schwester Suzanne künstlerisch tätig war, dass man ihr Werk zum Bestand der europäischen Kunstgeschichte der Moderne zählen kann, ist auch informierten Kunstfreunden heute kaum bewusst. Das Kunsthaus Zürich zeigt ihr Schaffen erstmals in einer Retrospektive.
Was für eine Familie! Marcel Duchamp (1887–1968) ist der «Urvater» der modernen Kunst. Seine Brüder, der Plastiker Raymond Duchamp Villon (1876–1918) und der Maler Jacques Villon (1875–1963) sind ebenso Künstler von europäischem Rang und Wegbereiter der Moderne anfangs des 20. Jahrhunderts.
Nun taucht auch der Name Suzanne Duchamp (1889–1963) auf, der jüngsten Schwester der Duchamp-Brüder: Auch sie eine Künstlerin, auch sie eng verflochten mit Kubismus und Surrealismus und mit dem dadaistischen Biotop in Frankreich und in den USA. Hier und da begegnete man einzelnen ihrer Werke, in der Lausanner Surrealismus-Ausstellung vor Jahresfrist etwa einem Portrait Marcel Duchamps von ihrer Hand oder in der Fondation Beyeler in Riehen in einer Gruppenausstellung ebenfalls einer ihrer Malereien. Eine Übersicht über ihr Schaffen gab es bisher aber nicht.
Das Kunsthaus Zürich holt das nach in einer in Zusammenarbeit mit der Schirn-Kunsthalle in Frankfurt erarbeiteten Retrospektive, die in Zürich ihren Anfang nimmt und später in Frankfurt gezeigt wird. Auch wenn Marcel Duchamp dadurch als Taktgeber der Moderne nicht entthront wird und die Kunstgeschichte kaum neu geschrieben werden muss, erweist sich die Ausstellung doch als wichtiges Unterfangen: Sie zeigt Suzanne Duchamp als eigenwillige und unabhängige Künstlerin, die sich anfänglich in die Strategien dadaistischer Kunst einfügt, ab den frühen 1920er Jahren aber, ohne den Kontakt zur Kunst der Brüder und ihres Ehemannes – des französisch-schweizerischen Malers Jan Crotti (1878–1958) – ganz zu verlieren, den Weg einer persönlichen Figuration wählt.
Der Gesamteindruck der Ausstellung ist vielleicht heterogen, doch sie gilt – und da mag ihr Hauptverdienst liegen – dem Erschliessen eines bisher kaum bekannten Kapitels der neueren Kunstgeschichte. Der Umstand, dass sie weibliche Kreativität im weitgehend männlich dominierten dadaistischen und surrealistischen Umfeld zur Geltung bringt, fügt sich zum gegenwärtigen Trend der Museumsprogramme, die noch immer mit dem Aufarbeiten des Anteils von Künstlerinnen beschäftigt sind. Als Paradigma für die von der Öffentlichkeit übersehene und unter ihrem Werk gehandelte Künstlerin dient sie allerdings kaum, denn zu Lebzeiten hatte sie viele Gelegenheiten, ihr Werk öffentlich zu präsentieren; erst nach ihrem Tod im Jahr 1958 bleibt ihr Schaffen weitgehend ausgeklammert von der öffentlichen Diskussion.
Anfänge im Dadaisten-Kreis
Die Ausstellung in den Parterre-Räumen des Kunsthauses Zürich ist chronologisch aufgebaut und wartet zu Beginn mit jenen Papierarbeiten auf, die meist kleinformatig sind. Man kann sie jenen aus dem Kreis von Marcel Duchamp, Francis Picabia und Dada ähnlich empfinden. Im Katalog ist denn auch ein Text mit «Ein Schüler von Duchamp, Picabia und Dada» überschrieben, obwohl die Schwester von Marcel Duchamp in der Ausstellung kaum als Nachfolgerin, Schülerin oder gar als Nachahmerin seiner Strategien und künstlerischen Innovationen zu erleben ist. Zwar könnte es so scheinen, denn es finden sich in ihren Malereien wie in «Radiation de deux seuls éloignés» (1916–1920) wohl Motive, die sich auch bei Marcel Duchamp finden liessen wie zum Beispiel Drehungen, Rotationskörper, Auffächerungen. Ebenso bezieht Suzanne Duchamp, ähnlich wie ihr Bruder, erfindungsreich verschiedene Materialien wie Glasperlen, Wachs und Schnur in ihre Arbeit ein und weitet damit ihre Möglichkeiten malerischer Praxis experimentierfreudig aus. Ähnlich geht sie zum Beispiel in der grossen Papier-Arbeit «Un et une menacé» vor, in die sie Teile eines Uhrwerkes, ein Senkblei und weitere Fundgegenstände einarbeitet.
Doch Suzannes erotische Anspielungen sind weit dezenter und spielerischer als jene Marcel Duchamps. Und die Ablehnung des Kriegs seitens der zeitweise als Militärkrankenschwester tätigen Suzanne war weit weniger radikal als jene der zentralen Dada-Persönlichkeiten. Da sieht Jean-Jacques Lebel in seinem Interview mit der Herausgeberin des Katalogs, Talia Kwartler, ein für Suzanne Duchamp kennzeichnendes Paradox und Ambivalenz-Zeichen: Man könne nicht gleichzeitig Nationalist und Dadaist sein, führt der französische Schriftsteller, Künstler und Tinguely-Freund aus, der auch vom «clanartigen Zusammenhalt der Familie Duchamp» spricht, deren Mitglieder trotzdem unterschiedliche gesellschaftliche und politische Überzeugungen – und auch unterschiedliche künstlerische Positionen – vertreten. Lebel ist auch der Überzeugung, dass der Beitrag Suzanne Duchamps zur Dada-Bewegung ihre wichtigste künstlerische Äusserung ist. Dazu gehört auch der Anteil sprachlicher Elemente in ihrem Schaffen. Darin ist ihre Kunst nahe mit jener von Marcel Duchamp verwandt.
Nach dem Wechsel im Jahr 1922
1922 malt Suzanne Duchamp ein Selbstportrait. Die gut Dreissigjährige blickt uns mit weit geöffneten dunklen Augen an. Ihr schwarzes Haar liegt, der damaligen Mode entsprechend, kurz geschnitten eng am Kopf an. Sie trägt ein blassrosafarbenes Kleid. In den Ausschnitt steckte sie sich eine leicht welkende dunkelrote Blume. Der Hintergrund ist in hellem Grau gehalten. Die Künstlerin präsentiert sich ähnlich, wie Man Ray sie drei Jahre später in einem Foto festhält.
1922: Das ist die Zeit ihres abrupten Wechsels von Dadaistischem und Surrealistischem zu einer anekdotischen und teils auch autobiographischen Figuration. Wir sehen ein Hochzeitspaar vor uns, einen jungen Mann («Le garçon qui se crois marin»), eine «Soubrette dans le jardin» oder, fein säuberlich, auf einer Gartenbank sitzend, eine sommerliche Gesellschaft (Bild ganz oben). 1924 malt sie in «Le paradis terrestre» Adam und Eva inmitten lammfrommer wilder Tiere. Es folgen heitere Strandszenen oder zwei weibliche Akte in einem Interieur (1939) und attraktive Ausblicke in üppige Landschaften von mitunter flammender Farbigkeit.
Der Aufbruch in die Moderne, der ihre erste Phase kennzeichnete, und der einherging mit Marcel Duchamps, des Schachspielers, verwinkelten und oft absurden, aber gerade darum so faszinierenden künstlerischen Rösselsprüngen war verschwunden und machte einer Bezugnahme auf die Fauves – auf Matisse, Vlaminck, Soutine oder Dufy – Platz. Ihre Pinselführung hat sich mit den Sujets gewechselt zu Spontaneität und Emotionalität. Die mit Leidenschaft gezogenen Linien spielen eine Rolle. Stürmischer Wind peitscht durch Baumkronen, der Teller auf einem Stillleben scheint zu leben. Noch 1961 malt sie «Le monde souterrain», vielleicht, wie andere spätere Werke, ein wenig aus der Zeit gefallen. Es ist das beeindruckende Werk einer ihren eigenen Weg in die Selbständigkeit suchenden Künstlerin.
Bis 7. September
Katalog 56 Franken
Suzanne Duchamp wurde 1889 in der Normandie als jüngere Schwester von Marcel Duchamp geboren. Als der Vater, ein Notar, pensioniert wurde, zieht die Familie nach Rouen, wo sich Suzanne an der Ecole des Beaux-Arts einschreibt. Ihre drei älteren Brüder sind ebenfalls bildende Künstler und verkehren mit Francis Picabia, Guillaume Apollinaire und anderen Künstlern sowie mit Jean Crotti, den sie 1919 heiratet. Marcel Duchamp schickt einer Schwester 1912 drei Bilder, die sie im Salon des Indépendants verkauft. Sie selber zeigt in der Section d’or, einer für den Kubismus wichtigen Ausstellung, zwei eigene Werke. 1913 übersiedelt sie nach Paris. In dieser Zeit ist sie mit ihrem Bruder Marcel eng verbunden. Ihr erstes Bild, das dem Dadaismus zugeordnet werden kann, ist «Radiation de deux seuls éloigné». Bei Kriegsbeginn 1914 arbeitet sie als Krankenschwester in einem Armeelazarett in Paris. Marcel Duchamp, der inzwischen in New York lebt, bittet sie, den Flaschentrockner, den er in seinem Atelier zurückgelassen hat, das erste Redymade, nach New York zu senden. Sie zeigt ihre Arbeiten oft in Paris, teilweise mit jenen ihres Mannes Jean Crotti. Sie beteiligt sich auch an Ausstellungen der Femmes artistes modernes in der Gallerie du Théâtre Pigalle. 1946 unternimmt sie mit Jean Crotti eine ausgedehnte Reise in die USA, ihr erster Aufenthalt in diesem Land. 1958 stirbt Jean Crotti und wird in Freiburg bestattet, 1963 stirbt Suzanne Duchamp. Ihr Grab befindet sich in Rouen.