Kann etwas real und surreal zugleich sein? Und lässt sich diese Spannung fotografieren? Timm Rautert stellt in seinem Band «Weltraum» mit seinen Bildern von realen Räumen die Betrachter vor Rätsel, die sich erst nach und nach auflösen.
Zunächst aber überzeugen seine Fotos durch ihre eigene Art von Faszination. Die grossen Konferenzräume bestechen durch ihre gestalterische Klarheit. Und Rautert hat sie derartig sorgfältig ins Bild gesetzt, dass es kein störendes Detail gibt. Im Gegenteil: Die Stühle, die Mikrophone, die Schreibblöcke sind so exakt platziert, als wären ihre Anordnungen millimetergenau vermessen worden. Das schimmernde Licht auf Böden und Decken, überhaupt die sorgfältige Dosierung der Beleuchtung vermitteln zusätzlich den Eindruck grösster Stimmigkeit.
Aber was hat es mit diesen menschenleeren Konferenzsälen auf sich? Zum Teil sind sie für grösste Teilnehmerzahlen ausgelegt, zum Teil aber nur für kleinere Gremien. Und was bedeutet es, dass sich im Bildband die Bilder von den Räumen sich jeweils auf den rechten Buchseiten befinden, während links gegenüber in immer der gleichen räumlichen Position Mitglieder der italienischen Finanz- und Zollpolizei, der Guardia di Finanza, sitzen? Und auch sie wirken derartig perfekt, als wären sie nicht ganz von dieser Welt.
Am Ende des Bandes erklärt Timm Rautert, was es mit den Konferenzräumen und den Personen auf sich hat. Das Gebäude, in dem sich die Konferenzräume befinden, geht auf Benito Mussolini zurück. Südlich des Kolosseums liess er die Bauarbeiten für sein «Ministerio dell’Africa Italiana» beginnen. Allerdings wurden sie 1940 wieder eingestellt. Anfang der 1950er Jahre wurde die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen darauf aufmerksam und liess es für sich fertigstellen und nach und nach erweitern. Diese «Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO)» ist mit ihren 13’000 Mitarbeitern aus 194 Staaten die grösste Arbeitseinheit der Uno. Nun haben die Architekten der in dem Gebäude vertretenen Länder ihre Konferenzsäle ganz im Stil ihres jeweiligen Landes gestaltet. Rautert spricht von «Simulakren».
Im Jahr 2012 war Rautert aus Anlass eines Gastaufenthaltes in der Villa Massimo auf dieses Gebäude gestossen. Etwas Besseres hätte ihm nicht passieren können, denn er hatte sich Jahrzehnte lang im Rahmen seiner «bildanalytischen Photographie» mit der Frage beschäftigt, in welcher Weise Fotos die «Realität» abbilden. Vereinfacht ausgedrückt: Wie wirklich ist die Wirklichkeit, die auf den Bildern erscheint? Auch als Hochschullehrer hat er sich damit intensiv beschäftigt und einen Kreis von Schülern um sich versammelt. Aus heutiger Sicht erscheinen diese fein gesponnenen Fragen und Theorien reichlich abgehoben. Aber in der Realität als Berufsfotograf, der sein Geld verdienen musste, war Rautert lange Zeit mit seinen Bildern für das Zeit-Magazin und andere herausragende Plattformen sehr erfolgreich.
Die so ganz unterschiedlich gestalteten Räume in ein und demselben Gebäude, die mit einer starken suggestiven Kraft eine Verbindung zu ihrer jeweiligen Kultur herstellen, dokumentieren die Vielfalt des Möglichen. Und Rautert geht noch weiter. Zu Beginn seines Bandes zitiert er den Philosophen Hans Blumenberg, der feststellt, dass die Vielfalt des Möglichen im «Willen zur Konstruktion» weit über das hinausgeht, was die Natur bereits realisiert hat. – Man muss diesen Theorien nicht folgen, um sich von der Stimmigkeit der Fotografien überzeugen zu lassen.
Wie kommen aber die Mitglieder der italienischen Finanz- und Zollpolizei in diesen Bildband? Dazu erzählt Timm Rautert, wie er Papst Innozenz X. auf einem Gemälde von Diego Velázquez begegnet ist. «Misstrauisch schaute der Papst mich an.» In seiner Vision fiel das Bild zu Boden, und der Papst schrie: «Schau mich an, schau mich an.» Da wurde ihm klar, dass er die «einsamen Bilder der kirchlichen Granden auf den roten Samtstühlen» gerne den Räumen zugeordnet hätte. Weil das nicht ging, entschied er sich für Mitglieder der «ältesten italienischen Polizeitruppe» als «Papst-Simulakren». Diese Zuordnung «zu den Welträumen schliesst einen Denkraum des Fotografischen». Es gehe ihm dabei um eine «Fiktionalisierung des Faktischen».
Es ist alles andere als zwingend, diesem Gedankengang zu folgen, um die Bilder in ihrer Qualität zu würdigen. Ein grosser Fotograf zeigt in diesem Band einmal mehr sein Können, und man wird, je länger man seine Bilder auf sich wirken lässt, ihren künstlerischen Wert erkennen.
Timm Rautert: Weltraum. 64 Seiten, 48 Abbildungen, Steidl Verlag Göttingen, 1. Auflage Sept. 2025, 45 Euro