US-Präsident Biden leitete mit seiner Mittelost-Reise eine Wende von Moral- zu Realpolitik ein. Er musste (vielleicht zähneknirschend, aber das ist Spekulation) zur Kenntnis nehmen, dass Saudi-Arabien den Weltmarkt nur mit marginal mehr Erdöl versorgen will und dass der faktische Machthaber, Mohammed bin Salman, nicht daran denkt, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschliessen. Auch gegenüber dem von den USA geäusserten Wunsch, das Königreich solle (in Harmonie mit Israel) die Drohkulisse gegenüber Iran verstärken, zeigte sich MbS (populäre Kurzform des Namens von Mohammed bin Salman) renitent.
Manches deutet in die gegenteilige Richtung: Saudi-Arabien möchte bestehende Spannungen mit dem Mullah-Regime abbauen, möchte auf jeden Fall eine militärische Konfrontation vermeiden – und befindet sich da auf einer gemeinsamen Linie mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, deren Führung sich sogar bereits darauf vorbereitet, mit Teheran wieder diplomatische Beziehungen aufzunehmen.
Also bleibt es für absehbare Zeit dabei, dass Europa, als Folge der gegen Putin verhängten Sanktionen, hinsichtlich Erdöl und Gas darben und möglicherweise im kommenden Winter nicht nur frieren, sondern sich auch auf eine Krise bei der Industrie-Produktion gefasst machen muss?
Die Welt schwimmt im Öl
Die Welt schwimmt förmlich, auch ohne russische Lieferungen, in Erdöl und Erdgas. Venezuela hat Öl-Reserven von 48 Milliarden Tonnen, Iran Gas-Ressourcen von 32 Billionen Kubikmetern. Öffnet man den Blick geografisch noch etwas weiter, immer noch ohne Berücksichtigung Saudi-Arabiens, wird die Lage noch «rosiger»: Qatar könnte dank seines Gas-Reichtums (24 Billionen Kubikmeter) seine Lieferungen massiv steigern, Irak zumindest die Engpässe im Bereich des Erdöls (Ressourcen im Umfang von 20 Milliarden Tonnen) lindern, und das Gleiche gilt für Iran – sofern, und da kommen wir zum Wesentlichen, die USA ihre Sanktionen aufheben oder zumindest lockern würden.
Warum geschieht da nichts?
Iran wird nicht nachgeben
Die Schwierigkeiten der USA im Umgang mit Iran sind allgemein bekannt: Das Regime in Teheran sperrt sich gegen einen Teil jener Forderungen, die im Rahmen der so genannten Atomverhandlungen in Wien von amerikanischer Seite vorgebracht worden sind. Würde Teheran sich fügen, müsste es so ziemlich all das preisgeben, was es in den letzten Jahren erreicht hat, nämlich seinen (militärisch abgestützten) Einfluss in der Region des Mittleren Ostens, insbesondere in Syrien, Irak, Jemen und Libanon. Iran müsste sich drastischen Beschränkungen in Bezug auf die Produktion von Drohnen und Raketen unterwerfen, die al-Quds-Brigaden und wohl auch die Pasdaran, die Einheiten der Revolutionswächter, auflösen. Und auf die Forschung im Bereich des Nuklearen verzichten (die, gemäss iranischer Darstellung, keine militärischen Ziele verfolgt, die aber von Israel, auch von westlichen Regierungen, als Vorstufe zur Entwicklung einer Atombombe abzielt).
Ich wage die Prognose: Iran wird sich diesem Gesamtkomplex von Forderungen verweigern, an erster Stelle jener, die sich auf die Pasdaran beziehen. Dies schon deshalb, weil die Pasdaran, die Revolutionswächter, zu einem alles durchringenden Staat im Staate geworden sind und das Regime gar keine wesentliche Entscheidung ohne sie mehr treffen kann. Was im Klartext heisst: Die so genannten Atomgespräche sind zum Scheitern verurteilt. Bestenfalls können wir noch auf Einigungen in ein paar Teilbereichen hoffen – zum Beispiel darauf, dass man sich darauf einigt, dass Iran in sehr beschränkten Mengen Erdöl exportieren darf und dass, im Gegenzug, einige Willkür-Urteile der (vom Regime abhängigen) Justiz gegen Ausländer aufgehoben würden.
Der Irak kommt nich vom Fleck
Was ist mit Irak, dem schon erwähnten Land? Neunzehn Jahre nach dem Krieg, den die USA gegen das Regime von Saddam Hussein führten (der mit seinen Folgen schwerwiegend die Bevölkerung, aber nicht die Herrschafts-Ebene traf), steckt Irak immer noch in tiefer Krise. Eine handlungsfähige Regierung kann nicht gebildet werden, die Sicherheitskräfte wären ohne die Mitwirkung von (auch nach Iran orientierten) Milizen ohnmächtig, und die zu mehr als 80 Prozent vom Erdöl abhängende Wirtschaft kommt und kommt nicht vom Fleck.
Irak hat Erdölreserven von 20 Milliarden, aber genutzt werden kann dieser immense Reichtum offenkundig nur in geringem Mass.
Kaum Öl aus Venezuela
Was ist mit dem dritten, bereits erwähnten Land, das ebenfalls in der Lage wäre, den Rohstoff-Mangel in Europa zu lindern, mit Venezuela?
Die USA verhängten 2017 harte Sanktionen gegen das Regime in Caracas, in der Meinung, so könne das Regime von Nicolas Maduro zur Kapitulation respektive zur Machtübergabe an einen Demokraten gezwungen werden. Die damals schon marode Infrastruktur der Erdölindustrie des Landes «verlotterte» noch mehr, die Produktion sank immer tiefer, und aufgrund der US-Politik wollte bald auch kein europäisches Unternehmen mehr Erdöl aus Venezuela kaufen. Hinzu kam ein technisches Problem: Das venezolanische Öl ist schwierig bei der Verarbeitung, d. h., es gibt nur wenige Raffinerien, etwa in den USA oder in Europa, die das Produkt wirklich nutzen können.
Hoffnung für dieses Problem bot respektive bietet, ausgerechnet, Iran, dessen Erdöl sich dann, gemischt mit dem venezolanischen, für die weitere Verarbeitung auch in normalen Anlagen eignet.
Mangel trotz Überfluss
Nur unterliegt ja, ausgerechnet, auch Iran härtesten US-Sanktionen. Ein paar iranische Tanker, die im letzten Jahr Venezuela mit eigenem Material aushelfen wollten, wurden von den USA bis fast zum letzten Tag der Fahrt mit Beschlagnahmung bedroht – ans Ziel kamen wenige. Womit, von US-amerikanischer Seite, der Beweis erbracht wurde, dass jegliche Kooperation des «Pariah» Iran mit dem «Pariah» Venezuela letzten Endes von der Gnade der USA abhängt.
Und die «Moral aus dieser Geschichte»? So lange eine US-Regierung konsequent an den von ihr selbst verhängten Sanktionen festhält, so lange wird auf den Märkten Mangel an Erdöl und Erdgas herrschen. Gegen Iran wurden 3616 Sanktionen erlassen, gegen Venezuela 651. Nur jene Instanz im hoch entwickelten System der USA, die für eine Strafmassnahme votiert hat, kann sie widerrufen: allenfalls das Weisse Haus, in den meisten Fällen der Senat. Die Chancen auf einen Widerruf sind also gering.
Und so bleibt es wohl noch zumindest für längere Zeit so, dass wir in Europa im Hinblick auf den nächsten Winter zittern müssen, auch wenn die Welt, eigentlich, in Erdöl und Erdgas schwimmt.