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Syrien

Die Stunde der Wahrheit

10. März 2025
Reinhard Schulze
Leichenhalle
Syrische Sicherheitskräfte am Eingang einer Leichenhalle in der Stadt Jableh in Latakia, 9. März 2025 (Keystone/EPA/Mohamad Daboul)

Die Ordnung der neuen syrischen Republik wurde am 6. und 7. März auf grausame Weise herausgefordert. Asad-Loyalisten, deren bewaffnete Verbände noch über Rückzugsgebiete im Grenzgebiet zum Libanon verfügen, hatten seit Längerem eine koordinierte Offensive gegen Verbände des Regimes von Ahmad al-Sharaa geplant.

Am 6. März griffen ihre Bewaffneten, unterstützt von den berüchtigten, Mahir al-Asad unterstellten Shabiha-Milizen, 21 Posten und Einrichtungen der Verbände des HTS-Regimes in den Vororten der Küstenstädte Tartus und Latakia sowie entlang der wichtigsten Küstenstrassen an. Bei den Kämpfen wurden mehrere hundert Menschen getötet. Gerüchte über einen Staatsstreich machten die Runde. Sofort formierten sich bewaffnete Verbände, die von eilig aus Homs mobilisierten regimenahen Einheiten unter dem Kommando eines abtrünnigen Kriegsherrn unterstützt wurden. Nicht wenige Bewaffnete alawitischer Milizen sollen sich als Sicherheitskräfte der HTS ausgegeben und dem Mob angeschlossen haben.

Unterschiedliche Gruppen von Gewalttätern

Im Morgengrauen des 7. März nahmen dann die Bewaffneten blutige Rache: Mehr als tausend Menschen sollen den pogromartigen Massakern zum Opfer gefallen sein. Die Mehrzahl der Opfer waren Alawiten. Erst in der Nacht zum 8. März ebbten die Auseinandersetzungen langsam ab. Das Regime in Damaskus verurteilte die Gewalt scharf. Viele der Täter waren Milizionäre aus Zentralasien und dem Nordkaukasus, die sich in Idlib ultrareligiösen Dschihad-Bünden angeschlossen hatten. Dazu kamen Gangster, die ihre Bandenmacht im Rahmen der Syrischen Nationalarmee ausübten und nun nicht bereit waren, sich der neuen syrischen Armee zu unterstellen. Lokale Grössen des alten Regimes, die mit Terror die Bevölkerung gegen Damaskus aufbringen wollten, schickten ihre Handlanger los. Nicht zu vergessen wütende Nachbarschaften, die sich für erlittenes Unrecht wie das Massaker von Baniyas 2013 durch alawitische Milizen rächen wollten. Kriminelle Plünderer und wohl auch einige Angehörige der Sicherheitskräfte des HTS, die sich von der Führung in Damaskus verraten fühlen, gehörten ebenfalls zu den Tätern. Manch einer nutzte die Lage für eine persönliche Abrechnung.

Zur Gewalt anstachelnd wirkte auch das Ausbleiben der von der Regierung immer wieder versprochenen Übergangsgerechtigkeit, ein ultrareligiöser Fanatismus gegen alles Schiitische und damit auch gegen die Alawiten, Rachegelüste gegen «Kollaborateure», Bandenkriminalität und eine wachsende Kriegsstimmung gegen das Regime.

Wilde Gerüchte

Schon am Tage der Massaker kursierten wilde Gerüchte: Jihadistische Sunniten würden nun auch Kirchen angreifen und zerstören, in christlichen Nachbarschaften und Dörfern wüten und Kultstätten der Alawiten dem Erdboden gleichmachen. Vergebens versuchten Würdenträger der christlichen Konfessionen in einer gemeinsamen Erklärung die Wogen zu glätten. Bislang, so hiess es, gebe es keinerlei Hinweise auf antichristliche Ausschreitungen. Und doch sind die Massaker ein Hinweis darauf, wie sich im Krieg und nun in der Nachkriegszeit die machtpolitische Sortierung und Stigmatisierung der komplexen soziokulturellen Zugehörigkeiten nach ethnoreligiösen Grossgruppen verstärkt hat. Dieser Ethnonationalismus entlang religiöser Grenzen hat nicht nur die Religionslandschaft in Syrien tiefgreifend verändert, sondern auch die Religionen selbst. Sie haben in weiten Bereichen ihren kultisch-rituellen Bezug verloren und sind zu Instanzen einer genealogisch definierten identitären Zugehörigkeit geworden. Die in vielen Regionen bis heute gepflegte Pluralität von Zugehörigkeiten entsprechenden kommunalen, kulturellen, beruflichen, verwandtschaftlichen und politischen Lebenswelten wird durch den neuen Ethnonationalismus, der nach Religionsgrenzen territorial festgeschrieben ist, immer dichter überlagert und überformt.

Zunächst gelang es dem Regime, einen fragilen Waffenstillstand durchzusetzen. Viele Bewaffnete beider Seiten konnten jedoch in das schwer zugängliche Hinterland fliehen. Das Regime versprach, gegen die Gewalttäter auch in den eigenen Reihen vorzugehen. Dazu setzte es eine siebenköpfige Untersuchungskommission ein, bestehend aus sechs Richtern und einem Sicherheitsexperten, die zwar der demokratischen Opposition gegen das Asad-Regime angehörten, sich aber explizit nicht als Teil der HTS verstehen. Der Aufstand und die anschliessenden Pogrome haben die Fragilität der neuen Ordnung drastisch vor Augen geführt. Angesichts der Gewaltexzesse zweifeln nicht wenige Beobachter am Fortbestand der neuen syrischen Republik unter Ahmad al-Sharaa. Die Stunde der Wahrheit ist für das Regime früher gekommen als erwartet.

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