
Rechtspopulistische Parteien drängen vielerorts an die Macht. Ausgerechnet in der Schweiz, einem Labor solcher Bewegungen, ist deren Machtübernahme kein Thema. – Hier der erste Teil einer Darstellung, der sich mit der augenscheinlichen Schweizer Immunität befasst.
In Deutschland geht verständlicherweise ein Gespenst um. Der Verfassungsschutz hat die Alternative für Deutschland AfD, deren Wähleranteile kontinuierlich zunehmen, kürzlich als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Eine besorgniserregende Tatsache im Hinblick auf ein Szenario, in welchem diese Partei die nächsten Bundestagswahlen gewinnen und danach die Regierung stellen könnte. Schon viel länger sind ähnliche Diskussionen in Frankreich im Gange, wo die Angst vor einem Sieg des Rassemblement National in den Präsidentschaftswahlen 2027 umgeht. Zwar steht die Kandidatur von Marine Le Pen mindestens in Frage, seit die langjährige Parteivorsitzende wegen Veruntreuung von Geldern des Europäischen Parlamentes verurteilt worden ist. Aber diese Vorgänge scheinen die Unterstützung dieser fremden- und EU-feindlichen Partei nicht stark zu beeinträchtigen.
Neben diesen rechtspopulistischen Parteien ist europaweit auch ein Linkspopulismus zu beobachten, wenn auch nicht im selben Ausmass. Für Frankreich trifft diese Qualifikation vor allem auf die Partei La France Insoumise unter ihrem Anführer Jean-Luc Mélenchon zu. Für Deutschland wäre das Bündnis Sarah Wagenknecht zu erwähnen, das zwar auf Länderebene Regierungsverantwortung trägt, den Sprung in den Bundestag aber nicht geschafft hat. Auch wenn in der Schweiz gelegentlich einzelne linkspopulistische Stimmen zu vernehmen sind, kann hier jedoch nicht von einem eigentlichen parteipolitischen Ableger dieser Strömungen gesprochen werden. Linkspopulismus findet in der Schweiz keinen guten Boden. Ganz anders der Rechtspopulismus, und davon soll in diesem Beitrag ausgegangen werden.
Gegen «Überfremdung» und gegen die EU
Was den Rechtspopulismus anbelangt, hat die Schweiz historisch und europaweit gesehen in zweierlei Hinsicht eine Vorreiterrolle. Im Bereich dessen, was damals mit «Überfremdung» umschrieben wurde, gelten die anfangs der 1960er Jahre in der Schweiz gegründeten Bewegungen als Vorreiterinnen für ganz Westeuropa.(1) Eine erste Manifestation bildete die Mobilisierung für die Abstimmung über die sogenannte Schwarzenbach-Initiative, welche zwar abgelehnt wurde, aber immerhin 46 Prozent Stimmenanteil erreichte. In den Neunzigerjahren trat dann die Schweizerische Volkspartei SVP – insbesondere durch ihre Zürcher Sektion – das Erbe der Überfremdungsbewegungen an und erweiterte die Ausländerfeindlichkeit um das Thema der Asylpolitik.
Das zweite Thema ist der Kampf gegen die europäische Integration, der zwei Jahrzehnte später einsetzte und 1992 ein erstes Mal in der Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR kulminierte, in welcher wiederum die SVP eine entscheidende Rolle spielte. Bemerkenswert ist, dass dies während einer überwältigend integrationsfreundlichen Stimmung in ganz Europa geschah, einer Folge des Mauerfalls und der Implosion der Sowjetunion. Das Ende das Kalten Krieges löste zwei Integrationsschübe aus. Die mittelosteuropäischen Staaten freuten sich auf Beitrittsverhandlungen mit der EU, die 2004 zur grossen Erweiterung führen sollten. In Westeuropa erfolgten die EU-Beitritte schon 1995, für Österreich, Finnland und Schweden nach einem kurzen Gastspiel im EWR, während Norwegen, Island und Liechtenstein den letzteren für sich als bessere Form betrachteten. Nur die Schweiz praktizierte die totale Verweigerung einer Integration, welche über das 1971 abgeschlossene Freihandelsabkommen hinausgegangen wäre. Bemerkenswert also auch in diesem zweiten Thema die klare Vorreiterrolle der Schweiz, hier nun nicht mehr nur für Westeuropa, sondern hinsichtlich des ganzen Kontinentes.
Wenn heute von Rechtspopulismus die Rede ist, stehen immer noch dieselben beiden Themen im Vordergrund. Einerseits geht es um die Frage der Migration, Beschränkung der Einwanderung und Infragestellung des Rechts auf Asyl. Andererseits nimmt die Bekämpfung der europäischen Integration einen breiten Raum ein, indem die Europäische Union in der Form, zu der sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, dezidiert abgelehnt wird. Und in beiden Themen ist die Schweiz Vorreiterin geblieben. Die fremdenfeindlichen Plakate der SVP – insbesondere das «Schäfchenplakat» im Zusammenhang mit der Volksinitiative «zur Ausschaffung krimineller Ausländer» – lösten nicht nur bei ähnlich orientierten Parteien in Europa Nachahmungsgelüste aus, sondern erlangten gelegentlich auch weltweit einiges an Aufmerksamkeit. Und in der Ablehnung der europäischen Integration berufen sich Exponenten der deutschen AfD ebenfalls auf die schweizerische SVP, die schon seit Anfang der 90er Jahre den Weg dafür geebnet hat, indem sie einen grundlegenden Wandel zum Rechtspopulismus durchmachte.(2)
Turbulenzen im Bundesrat
Warum also in der Schweiz keine Angst vor einer Regierungsübernahme durch den Rechtspopulismus, wie sie eingangs für Deutschland und Frankreich beschrieben worden ist? Auch dazu eine kurze historische Übersicht. Die sieben Mitglieder des Bundesrates werden durch die Vereinigte Bundesversammlung einzeln gewählt, seit 1959 nach einem Muster, das den Namen «Zauberformel» trägt, obwohl da viel weniger Zauber dran ist, als man zunächst meinen könnte: Die drei grössten Parlamentsfraktionen stellen je zwei Mitglieder, die nächstgrössere eines. Diese nächstgrössere Fraktion war seit 1959 die SVP. Als diese Partei aufgrund ihres rechtspopulistischen Wandels 1999 zur stärksten Fraktion wurde, stellte sie den Anspruch auf zwei Bundesratssitze. Sie musste sich aber gedulden, bis 2003 ihr Übervater Christoph Blocher als zweiter Vertreter dieser Fraktion in das Gremium einziehen konnte.
Es folgten vier gelegentlich etwas turbulente Jahre, endend mit der Nicht-Wiederwahl Blochers, ein Vorgang, der sich seit Bestehen der Eidgenossenschaft erst dreimal ereignet hatte, 1854, 1872 und schliesslich 2003, als der errungene zweite Sitz der SVP die Nicht-Wiederwahl von Ruth Metzler-Arnold bedeutete. Stattdessen wurde 2007 die Bündnerin Eveline Widmer-Schlumpf gewählt, SVP-Mitglied wie ihr Vorgänger. Die Turbulenzen setzten sich fort, mit Ausschluss der Bündner Kantonalpartei, Ausschluss und Austritt der beiden amtierenden Bundesratsmitglieder aus der SVP, Neugründung der Bürgerlich-Demokratischen Partei BDP – inzwischen mit den Christdemokraten zur «Mitte» zusammengeschlossen – und Bestätigung des zweiten SVP-Sitzes nach den Parlamentswahlen von 2015 und dem freiwillig erfolgten Rücktritt von Evelyne Widmer-Schlumpf zum Abschluss ihrer zweiten Amtsperiode.
Besonderheit des Regierungssystems
Dies macht eine Besonderheit des schweizerischen Regierungssystems deutlich. Weder ist es vergleichbar mit dem System der parlamentarischen Demokratie nach dem deutschen Muster noch mit dem präsidialen System, wie es die Vereinigten Staaten oder Frankreich (3) kennen. Der Bundesrat ist eine Kollegialregierung, deren Präsidium rotiert und lediglich die Stellung eines Primus inter Pares kennt. Während der deutsche Bundeskanzler sein Kabinett selbst zusammenstellt, der französische Präsident den Premierminister und auf dessen Vorschlag die Minister ernennt, werden die Mitglieder des Bundesrates einzelnen gewählt. Im Unterschied zur parlamentarischen Demokratie gibt es kein Misstrauensvotum, keine Rücktrittsforderung nach politischen Niederlagen und kein rechtliches Verfahren, ein Bundesratsmitglied zum Rücktritt zu zwingen.
Die Bundesratsmitglieder stehen ihren Departementen vor, welche die Geschäfte vorbereiten. Das Departementssystem wird meistens als Direktorialsystem bezeichnet, dementsprechend werden die Verwaltungseinheiten in vielen Kantonen Direktionen genannt, aus Gründen, auf die noch zurückzukommen ist. Beschlüsse müssen im Bundesrat gemeinsam getroffen werden. Von einem Mitglied, das seine Meinung nicht hat durchsetzen können, wird erwartet, dass es den einmal getroffenen Entscheid dennoch kollegial nach aussen vertritt.
Worin aber besteht genauer besehen die Kollegialität? Sie ist eine Frage der politischen Kultur und hängt letztlich sogar mit Persönlichkeitsstrukturen zusammen. Die Schweiz ist geprägt von einer politischen Kultur des Konsenses, ausgerichtet auf eine möglichst breite Unterstützung für angestrebte Lösungen von Problemen. Das kann nur erreicht werden, wenn die an solchen Diskussionen beteiligten Personen sich zunächst ein Bild machen wollen, nicht nur von der Interessenlage der anderen Beteiligten, sondern auch von den Motiven, welche hinter den verschiedenen Interessanlagen stehen. Es ist dies die Voraussetzung dafür, dass eine Annäherung der Betrachtungsweisen überhaupt stattfinden kann.
Die gegenteilige Position kann etwas holzschnittartig mit einer Mentalität des «Alles oder Nichts» umschrieben werden. Rechtspopulistische Akteure wenden mit Vorliebe diese Methode an, indem sie ihr Hauptanliegen immer wieder – und oft mit immer denselben vorbestimmten «Merksätzen», die sich dem Publikum einprägen sollen – als den einzigen Bereich darstellen, auf den es politisch ankomme, und neben welchem alle anderen Aspekte zurücktreten müssten. Vor allem aber ist diese Methode jeglicher Kollegialität diametral entgegengesetzt, weil auf Argumente anderer Beteiligter nicht nur nicht eingegangen werden kann, sondern geradezu nicht eingegangen werden soll.
Darüber, was sich im Bundesrat in den Jahren 2003 bis 2007 abgespielt hat, soll hier nicht spekuliert werden. Die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz DODIS veröffentlicht jedes Jahr jeweils am 1. Januar nach Ablauf der dreissigjährigen Sperrfrist einen Band mit wichtigen Dokumenten, darunter auch Protokolle von Bundesratssitzungen. Man wird sich also bis am 1. Januar 2034 gedulden müssen, um erste Aufschlüsse zu erhalten. Aber die Geschehnisse von damals sprechen für sich selber. Die vier Jahre scheinen so turbulent abgelaufen zu sein, dass die Vereinigte Bundesversammlung erst zum dritten Mal seit der Staatsgründung 1848 zur Abwahl eines Bundesrates schritt, und dies aus Gründen einer Art «persönlicher Unverträglichkeit» mit den politischen Abläufen, die in diesem Gremium eigentlich stattfinden sollten.(4)
Glückliche Umstände in der Geschichte
Interessanter ist die Frage nach den Gründen für diese Besonderheit des schweizerischen Regierungssystems, das wie bereits erwähnt als Direktorialsystem bezeichnet wird. Die erste gesamtschweizerische Verfassung wurde diesem Land 1798 nach der Besetzung des schweizerischen Territoriums durch Frankreich aufoktroyiert. Sie orientierte sich an der französischen Direktorialverfassung von 1795.(5) Das Direktorium, das als Regierung amtete, war streng kollegial ausgestaltet. Die Jahre der Helvetik, in welcher diese Verfassung in der Schweiz formal Geltung hatte, waren geprägt von Kämpfen um neue Verfassungsideen verschiedener Ausrichtung. Deshalb schritt Napoleon als Mediator ein und eine neue Verfassung, die «Mediationsakte» nahm er selber an die Hand.(6) Er machte die schweizerischen Untertanengebiete 1803 zu vollwertigen Kantonen, drängte die Befugnisse des Bundes zugunsten der Kantone stark zurück und wies die wenigen Bundesbefugnisse der Tagsatzung zu.
Nach dem Ende der französischen Eroberungskriege folgte die Zeit der Restauration, die aufgrund des Wiener Kongresses von 1815 europaweit der Wiederherstellung der vorrevolutionären Verhältnisse diente, in der Schweiz unter Beibehaltung der Tagsatzung und der von Napoleon geschaffenen Kantone. In der Folge der Pariser Julirevolution von 1830 kam es jedoch zu einem neuen Aufbruch und es begann in der Schweiz die Zeit der Regeneration. In den «Regenerationskantonen» wurden die revolutionären Ideen wieder aufgenommen und Regierungen eingesetzt, die sich am Direktorialsystem orientierten. So gelangte dieses Regierungssystem schliesslich in die Bundesverfassung von 1848, nachdem sich die liberalen Kantone gegen die konservativen durchgesetzt hatten.
Dem ersten Bundesrat gehörten ausschliesslich Vertreter der liberalen (oder radikalen) Partei an, also Vertreter der Gewinner des Sonderbundskrieges, welcher der Staatsgründung vorangegangen war. Was man heute aufgrund der Zauberformel als Konkordanz bezeichnet, gab es in diesem praktisch als Einparteienregierung funktionierenden Gremium also nicht. Erst nach der Verfassungsrevision von 1874 und der Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums zeigte es sich, dass eine Einparteienregierung nicht mehr in der Lage war, für ihre Vorlagen genügend Unterstützung im Volk zu erreichen. Es folgte die Wahl eines ersten konservativen Bundesrates, später weiterer Vertreter anderer Parteien, bis es schliesslich zur heutigen Zauberformel kam. Kollegial funktionierte der Bundesrat hingegen von Anfang an. Diese Kollegialität aber auf die heute existierenden direktdemokratischen Instrumente zurückzuführen, wäre jedoch verfehlt.(7)
Zu gut für eine europäische Kooperation?
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Schweiz gesamteuropäisch betrachtet zum einen als Wiege des Rechtspopulismus bezeichnet werden kann, war sie doch wie eingangs dargestellt Vorreiterin in allen Bereichen, die den Rechtspopulismus bis heute kennzeichnen. Und zum anderen verfügt sie über ein ebenfalls gesamteuropäisch betrachtet einmaliges Regierungssystem, welches der grössten Partei, die klar als rechtspopulistisch definiert werden muss, nur eine beschränkte Regierungsbeteiligung erlaubt und ihr die Übernahme der ganzen Regierungsverantwortung verunmöglicht. In parlamentarischen Demokratien genügt eine relative Mehrheit der Parlamentssitze zur Übernahme der Regierungsverantwortung, falls sich nicht Koalitionen zu deren Vermeidung bilden lassen. Gespannt blickt man zurzeit auf die Niederlande. Präsidialsysteme erweisen sich als nicht weniger anfällig für solche Vorgänge.
Nun könnte aber der Eindruck entstanden sein, die Schweiz sei ein so aussergewöhnliches Phänomen, dass sie sich besser auf sich selber konzentriere. Insbesondere müsse sie ihre Eigenständigkeit gegenüber der Europäischen Union bewahren und sich der Kooperation, geschweige denn des Beitritts zu einem solchen Gebilde enthalten, das aus so vielen Staaten besteht, deren Regierungssysteme solche Sicherheitsventile nicht aufweisen. Aber weit gefehlt: Davon wird in einem zweiten Teil dieses Beitrages die Rede sein.
(1) Historisches Lexikon der Schweiz zum Thema »Fremdenfeindlichkeit«
(2) Historische Lexikon der Schweiz zum Thema »Schweizerische Volkspartei SVP«
(3) Für Frankreich wird meistens von Semipräsidentialismus gesprochen, weil in Phasen der Cohabitation der Präsident durch die Regierung einer anderen Partei gebremst, aber in seiner zentralen Funktion nicht ausgeschaltet wird.
(4) ... zum dritten Mal, weil die vier Jahre vorher erfolgte Abwahl lediglich einer Anpassung an die »Zauberformel« geschuldet war und nicht einer Art persönlicher Unverträglichkeit der betroffenen Magistratin.
(5) Alfred Kölz: Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien vom Ende der Alten Eidgenossenschaft bis 1848. Bern 1992, S. 103 ff.
(6) Kölz S. 138 ff.
(7) Historisches Lexikon der Schweiz zum Thema »Konkordanzdemokratie«