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Kommentar 21

Die Schweiz im Stillstand?

5. Juli 2018
Reinhard Meier
Reinhard Meier
In der Schweiz ist oft von angeblichem politischen Stillstand und von Reformstau die Rede. Sind solche Kassandrarufe in einem der reichsten und stabilsten Ländern ernst zu nehmen?

«Die Schweiz im Stillstand» - unter diesem Titel ist vom «Tages-Anzeiger» unlängst im Zürcher Etablissement Kaufleuten eine öffentliche Diskussion angekündigt worden. Da der Titel in den Medien ohne Fragezeichen publiziert wurde, ist anzunehmen, dass zumindest die Veranstalter davon ausgingen, dass es sich bei diesem Stillstand um ein eindeutiges Faktum handle. Offenbar zielt der bedenklich gemeinte Befund in erster Linie auf das Verhältnis zur EU und die umstrittene wie vorläufig völlig offene Frage eines sogenannten Rahmenabkommens mit der Europäischen Gemeinschaft ab.

Doch die Schlagwörter Stillstand und Reformstau werden von besorgten helvetischen Auguren auch in andern Zusammenhängen beschworen – etwa in Sachen AHV-Umbau, beim Thema Flüchtlingswesen oder der Regulierung für ausländische Arbeitskräfte. Andere Zeitgenossen werden auch noch das ihrer Ansicht nach ungenügende Tempo beim Ausbau der Velowege als Stillstand beklagen.

Aber Hand aufs Herz – sind das nicht alles Probleme, die man in den meisten andern Ländern liebend gern gegen die eigene Sorgen und Nöte eintauschen würde? Und was heisst eigentlich Stillstand? Über die AHV-Reform und das Verhältnis zur EU wird in der Öffentlichkeit dauernd debattiert und gestritten, gelegentlich auch abgestimmt. Wenn dabei nicht so schnell eine Entscheidung zustande kommt, ist das bei unaufgeregter Sicht der Dinge keineswegs schon ein Stillstand, sondern ein vielschichtiger, der Komplexität des Problems angemessener Suchprozess nach einer politisch tragfähigen Lösung. Wäre die Schweiz tatsächlich vom Stillstand-Virus befallen, wie die ungeduldigen Turbo-Eiferer jammern, würde sie punkto Wohlstand, Arbeitslosigkeit, Innovation und Stabilität kaum einen seit Jahrzehnten eingenommenen Spitzenplatz behaupten können.

«Das Gefühl von Dauer in der Politik ist uns abhanden gekommen», schrieb Peter von Matt vor einiger Zeit in der NZZ. «Die wirklichen Abläufe geschehen gletscherhaft langsam in der Tiefe.» Der Autor erinnert daran, wie lange es gedauert hat, bis die Eidgenossenschaft zu einem modernen Staat zusammenwuchs. Zuvor hatten die verbündeten Orte immer wieder blutige Kriege gegeneinander geführt. Verglichen mit jenem Jahrhunderte sich hinziehenden, überaus holprigen Einigungsprozess ist die erst vor einigen Jahrzehnten in Gang gesetzte EU-Integrationsbewegung noch ein sehr junges und bemerkenswert friedlich ablaufendes Experiment.

Was bis in 50 Jahren aus diesem Experiment werden wird, kann niemand wissen – doch die Chancen für eine immer engere europäische Union mit demokratischem Fundament scheinen nicht schlecht. Wenn die Schweiz diese Entwicklung mit neugierigem und kooperativem Interesse begleitet, ohne sich jetzt schon als Vollmitglied zu beteiligen, ist das kein Stillstand. Es handelt sich vielmehr um ein vertretbares Aufschieben von Entscheidungen, für die die Zeit noch nicht reif genug ist. 

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