Internationale Organisationen, Finanz- und Forschungsplatz Schweiz ziehen Spione an. Kaum jemand kommt vor Gericht und der Bundesrat sieht zu. Wird sich das ändern?
«Willkommen im Spionageparadies Schweiz», so der Titel des ersten Kapitels von Thomas Knellwolfs Buch über die grössten Schweizer Spionagefälle*. Die Schweiz war während des 2. Weltkriegs ein beliebter Ort für Spione, und sie ist es auch heute noch. USA, Russland und China beschäftigen neben einer grossen Zahl Diplomaten in den Botschaften zusätzlich mehrere Dutzend Agenten ihrer Nachrichtendienste. Das ist eine grosse Herausforderung für den Nachrichtendienst des Bundes (NDB), der im Vergleich zu anderen Ländern über sehr wenig Personal verfügt.
Dreister Mossad endet peinlich
Ein Beispiel, wie rücksichtslos Geheimdienste vorgehen und wie gutgläubig Polizisten sein können: Zwar arbeiten der israelische Geheimdienst Mossad und der Nachrichtendienst in Bern zusammen, doch Mossad-Agenten führten in der Schweiz eine geheime Entführungsvorbereitung durch. Unter falschem Namen reisten israelische Staatsbürger nach Bern. Sie planten eine dreiste Aktion und drangen in einen Keller des Hauses ein, in dem ein Libanese wohnte, angeblich mit Verbindungen zum Hisbollah.
Wegen Lärm mitten in der Nacht wurde die Polizei alarmiert. So wurden ein junges Paar und ein älterer Mann im Keller entdeckt. Sie wurden auf den Posten geführt. Aus der Tasche des älteren Mannes ragten Drähte heraus; das war verdächtig. Das junge Paar wurde am frühen Morgen entlassen. Die Bundespolizei befasste sich mit dem Fall und entdeckte, dass in jenem Keller ein Handy versteckt worden war, so dass über die angezapfte Telefonleitung alle Gespräche des Libanesen hätten abgehört werden können.
Der Israeli kam in Untersuchungshaft. Der Bundesrat protestierte beim Botschafter gegen die Verletzung der Souveränität, Israel entschuldigte sich; nichts davon drang an die Öffentlichkeit. Erst nachdem der Chef des Geheimdienstes infolge des blamablen Einsatzes zurückgetreten war, berichtete die Presse darüber, auch in der Schweiz. Weder der Mossad noch die Schweiz kamen gut weg.
Sorgfältig observiert vom NDB
Auf dem Friedhof Wetzikon trafen an einem heissen Sommernachmittag des Jahres 2018 zwei Mitarbeiter der türkischen Botschaft in Bern einen verschuldeten Türken, der seit langem in der Schweiz lebte. Er sollte nach weiteren Treffen seinem ehemaligen Geschäftspartner für viel Geld Tropfen einer Flüssigkeit ins Getränk träufeln, den «Rest» (die Verschleppung), würden die als Diplomaten angemeldeten Agenten übernehmen. Alle diese Treffen haben Mitarbeiter des Nachrichtendienstes observiert, danach den Geschäftsmann verhört und dank weiterer Fahndungsergebnissen Anzeige erstattet bei der Bundesanwaltschaft.
Nach dem Putschversuch gegen Präsident Erdogan sind zahllose Menschen, ohne Beweise, als Unterstützer der Putschisten in der Türkei und im Ausland verfolgt worden. Bei uns riefen ebenfalls viele Erdogan-Anhänger dazu auf, Sympathisanten der Putschisten bei den türkischen Behörden zu denunzieren; viele «Verdächtige» wurden beschimpft. Die feindliche Stimmung zwischen türkischen Staatsbürgern ist dem Nachrichtendienst aufgefallen: er streckte seine Fühler aus und hat viele Treffen, wie jene auf dem Friedhof in Wetzikon, unerkannt beobachtet und fotografiert.
Das Strafverfahren der Bundesanwaltschaft hat Justizministerin Sommaruga bewilligt. Obschon festgestellt worden war, dass die türkischen Diplomaten die Souveränität der Schweiz krass verletzt hatten, unterliess es der Bundesrat, beim türkischen Botschafter zu protestieren. Mit der Türkei bestehen gute Beziehungen und im Zusammenhang mit Islamisten aus der Schweiz, die sich via Türkei auf dem Weg zum IS in Syrien befanden, war man auf die Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden angewiesen. Nach einiger Zeit verliessen die observierten Diplomaten die Schweiz, erst danach wurde gegen sie ein Haftbefehl erlassen, so dass sie unser Land in Zukunft meiden müssen.
Ernüchternde Bilanz
Der Autor zieht aus der Sicht der Schweiz eine ernüchternde Bilanz mit Bezug auf die spektakulären Spionagefälle. Auch wenn nachgewiesen werden konnte, dass fremde Agenten in der Schweiz kriminelle Tätigkeiten planten oder ausführten, reagierte der Bundesrat nicht oder nur zögerlich.
Aus dem präzis recherchierten Buch – Knellwolf stützt sich auf viele Dokumente und zahlreiche Befragungen – geht hervor, dass Nachrichtendienst und Bundesanwaltschaft mit Bezug auf Spionage viel zu wenig über ihre Tätigkeiten sprechen. Das führe dazu – so der Autor –, dass die Medien mehr über Pannen und Pech in der Spionage- und Terrorismusabwehr sprechen würden als über ihre Erfolge.
Wird der Bundesrat entschlossener gegen Spionage vorgehen?
2018 erkannte der Nachrichtendienst, dass russische Agenten die Genferseeregion als Operationsbasis benutzen. Das alarmierte den Nachrichtendienst und die Überwachung wurde verstärkt – auch infolge der vom Volk gebilligten neuen Kompetenzen. Es stellten sich Erfolge ein, z. B. wurde ein russischer Agent beobachtet, wie er heikles Material aus einem Labor, das nicht nach Russland exportiert werden darf, kistenweise in sein Auto lud und dem Verkäufer Geld übergab. Die Bundesanwaltschaft eröffnete ein Verfahren; der Bundesrat mochte den Agenten zwar nicht zur unerwünschten Person erklären, aber er verlangte von den russischen Behörden, dass dieser die Schweiz verlasse, was auch geschah.
Knellwolf schliesst sein spannendes Buch, das vom Leser die ganze Aufmerksamkeit verlangt, mit den Worten: «Vieles deutet darauf hin, dass die Schweiz nun energischer und gezielter gegen fremde Geheimdienste vorgeht.»
*Thomas Knellwolf: Enttarnt. Die grössten Schweizer Spionagefälle. 253 Seiten. Verlag Wörterseh, CHF 29.90.