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Deutschland/Sowjetrussland

«Der Teufelspakt»

23. Februar 2022
Heiko Flottau
100 Jahre Rapallo
Der deutsche Reichskanzler Joseph Wirth (zweiter von links) mit der Delegation Sowjetrusslands: Leonid Borissowitsch Krassin, Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin, Adolf Abramowitsch Joffe (Foto: Deutsches Bundesarchiv, April 1922, Bild 183-R14433)

Vor bald 100 Jahren schlossen Deutschland und Sowjetrussland in Rapallo bei Genua einen Friedensvertrag. Das Übereinkommen sandte Schockwellen durch das politische Establishment Europas und der USA. «Nie wieder Rapallo» lautete ein politischer Kampfruf noch in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland.

Der Amerikaner George Friedman sagte einst einen Satz, der bis heute Gültigkeit hat. Friedman gründete 1996 das private Beratungsunternehmen Stratfor (Strategic Forecast). Die politischen Analysen von Stratfor trafen auf breite Zustimmung und galten oft als Interpretation der geopolitischen Strategie der USA. So sagte George Friedman:

«Also, das primäre Interesse der Vereinigten Staaten durch das letzte Jahrhundert hindurch – also im Ersten, Zweiten und im Kalten Krieg – sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland gewesen, denn vereinigt wären diese beiden die einzige Macht, die uns bedrohen könnte – und daher sicherzustellen, dass das nicht passiert.» (so zitiert  nach Wikipedia).

Kurz zusammengefasst: Die USA wollen  verhindern, dass sich Deutschland und Russland zu einem Bündnis zusammentun, welches Mittel- und Westeuropa politisch zerreissen und dem amerikanischen Orbit entziehen würde. Diese Strategie gilt bis heute.

Deutschland und Russland gegen den Westen?

Wenn also am Ostersonntag des Jahres 1922, dem 16. April, in Rapallo südlich von Genua das technologisch potente Deutschland und das rohstoffreiche Sowjetrussland (ein Gründungsmitglied der späteren Sowjetunion) im wahrsten Sinne über Nacht einen Vertrag schlossen, der die Aufnahme von diplomatischen Beziehungen und eine weitgehende wirtschaftliche Kooperation zum Inhalt hatte, dann läuteten sowohl in den USA als auch im gesamten Nachkriegseuropa die Alarmglocken.

«Bis zum heutigen Tage», schreibt der grosse deutsche Historiker und Publizist Sebastian Haffner (1907–1999) im Jahre 1988, «ist Rapallo …eine chiffrierte  Kurzformel», die erstens bedeutet, «dass auch ein kommunistisches Russland und ein antikommunistisches Deutschland unter Umständen gegen den Westen zusammenfinden … und zweitens, dass dies sehr plötzlich geschehen kann.»

Sebastian Haffner untersucht in seinem Essay die deutsch-russischen Beziehungen vom Sonderfrieden zwischen den beiden Ländern von Brest-Litowsk im Jahre 1918 bis zu Hitler und Stalin. Haffner nennt seinen brillanten Essay «Der Teufelspakt».

«Westler» und die «Ostler»

Wie also kam es zu «Rapallo»? Der englische Premierminister Lloyd George hatte für das Frühjahr 1922 nach Genua eine Konferenz einberufen, auf der, kurz gesagt, die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen im Nachkriegseuropa besprochen und eventuell neu geregelt werden sollten.

Nachdem zur deutschen Delegation Gerüchte gelangt waren, denen zufolge Lloyd George plane, Deutschland auch Reparationszahlungen an Russland aufzuerlegen, läuteten bei den Deutschen alle politischen Alarmglocken. Innerhalb der deutschen Delegation – die folgende Darstellung folgt dem Essay von Sebastian Haffner – gab es die «Westler», die bei ihren Gegnern als «Erfüllungspolitiker» bezeichnet wurden: als Politiker, die alle als diskriminierend empfundenen Bestimmungen des Versailler Vertrages erfüllen wollten. Zu ihnen zählten etwa Aussenminister Walther Rathenau. Und es gab die «Ostler». Ihnen war, wie sie sagten, eine «Interessengemeinschaft» der beiden Verlierer des Weltkrieges – Russland und Deutschland – wichtiger als eine Allianz mit den westlichen Siegern.

«Pyjamakonferenz»

In der Nacht zum Ostersonntag meldete sich bei der deutschen Delegation der russische Aussenminister Georgi Tschitscherin. Er forderte ein dringendes Treffen zwischen den beiden Delegationen für den Nachmittag desselben Tages. Ago von Maltzan, ein Ostler, trommelte nächtens die deutsche Delegation zusammen, in Pyjamas traf man sich im Raum von Walther Rathenau.

Um fünf Uhr morgens beschloss das als «Pyjamakonferenz» in die Geschichte eingegangene Treffen, am selben Tag ins nahe Rapallo zu fahren, wo die russische Delegation untergebracht war. Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrumspartei), eigentlich ein «Westler», war des langen Ringens mit den Westmächten leid und schlug sich auf die Seite der «Ostler».

«Sturzgeburt»

Zwölf Stunden nach dem Ende der Pyjamakonferenz, um 17 Uhr am Ostersonntag des Jahres 1922, unterzeichneten Deutschland und Sowjetrussland in Rapallo einen Vertrag, den Sebastian Haffner zwar als einen «sachlichen Friedenvertrag» bezeichnet, aber auch als ein «Jahrhundertereignis», als einen «Erdstoss, der die ganze  internationale Landschaft veränderte», als eine «Sturzgeburt».

Denn urplötzlich war Realität geworden, was geopolitisch nicht sein durfte: ein Pakt zwischen Deutschland und Sowjetrussland, der Deutschland aus dem westlichen Orbit zu schleudern drohte. Als unwahrscheinlich bis ausgeschlossen hatte es bis dahin gegolten, dass, wie Sebastian Haffner bemerkt, ein Land wie Russland, das die Zarenfamilie hatte erschiessen lassen, einen «Teufelspakt» mit einem Land eingehen würde, in dem die Kommunisten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg meuchlings ermordet worden waren.

Walter Rathenau
Der deutsche Aussenminister Walter Rathenau unterzeichnet für Deutschland 1922 mit Reichskanzler Joseph Wirth den Rapallovertrag. Wegen seiner auf eine Verständigung mit Sowjetrusasland zielende Politik wurde Rathenau von Mitgliedern der Terrororganisation «Consul» am 24. Juni 1922 ermordet. (Foto: Deutsches Bundesarchiv, April 1922, Bild 3773-22)

Doch so überraschend das diabolische Bündnis der beiden Kriegsverlierer den westlichen Siegermächten erschien – so überraschend kam es denn doch nicht. Denn manche solcher politischen Blitzeinschlage erhellen lediglich, was sich unterschwellig schon lange zusammengebraut hatte.

Joseph Wirth im Reichstag
Reichskanzler Joseph Wirth spricht am 29. Mai 1922 im Reichstag über den Abschluss des Vertrags von Rapallo. (Foto: Deutsches Bundesarchiv, Mai 1922, BildY 1-545-660-72)

Das Kaiserreich hilft den Bolschewiki

Da gab es den Sonderfrieden zwischen dem deutschen Kaiserreich und dem revolutionären Russland von Brest-Litowsk vom Frühjahr 1918, der es dem Deutschen Reich ermöglichen sollte, Armeen im Osten abzuziehen und an die belagerte Westfront zu werfen. Um diesen politische Coup zu ermöglichen, hatte das Kaiserreich dem in der Schweiz wohnenden Lenin ermöglicht, in einem plombierten Sonderzug durch Deutschland nach Russland zu reisen und dort die kommunistische Oktoberrevolution auszurufen.

Dieses Ereignis ist allgemein bekannt. Sebastian Haffner aber macht darauf aufmerksam, dass die Bolschewiki im Sommer 1918 im Bürgerkrieg gegen die vom Westen unterstützten bürgerlichen Gegenrevolutionäre vor einer Niederlage gestanden hätten. In dieser für die Bolschewiki lebensgefährlichen Lage sei – was nur wenigen Historikern im Detail bekannt sei – das Deutsche Kaiserreich den Kommunisten militärisch zur Seite gesprungen – gegen weitere Gebietsabtretungen, gegen immense wirtschaftliche  Zusagen.

Lenin siegt mit deutscher Hilfe

Die Kalkulation des Deutschen Kaiserreiches hatte – so schreibt Sebastian  Haffner – der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Hilmar von dem Bussche so dargelegt: Es müsse dem Reich gelingen, den Osten (also den russischen Westen) auszubeuten: «Dort sind die Zinsen für unsere Kriegsanleihen zu holen.» Die deutsche Militärintervention zugunsten der Bolschewiken trug zumindest dazu bei, Lenins Revolution zu retten.

Wenige Monate später, Anfang November 1918, war der Krieg im Westen verloren, der Erste Weltkrieg war zu Ende, die Monarchien der Habsburger, Hohenzollern und der Romanows waren zusammengebrochen. In Russland aber hatte Lenin gesiegt – mit deutscher Hilfe.

Die Reichwehr kooperiert mit der «Roten Armee»

Und es gibt noch eine Kooperation zwischen Deutschen und Russen, welche den Weg nach Rapallo ebnete. Die Reichswehr der Weimarer Republik – weil sie insgeheim Politik auf eigene Rechnung machte, von Historikern als «Staat im Staate» bezeichnet – kooperierte heimlich mit der von Trotzki geschaffenen «Roten Armee».

Wer den Film «Babylon Berlin» gesehen hat, wird sich daran erinnern, wie Kommissar Gereon Rath (gespielt von Volker Bruch) in eine klapprige DC 3 steigt, um im Westen Russlands Aufnahmen von Flugzeugen zu machen, welche die Reichswehr dort hatte bauen oder deponieren lassen. Mit seinem riskanten Flug wollte Gereon Rath der deutschen Regierung beweisen, in welchem Ausmass die Reichswehr heimlich mit dem bolschewistischen Russland  kooperierte. Sebastian Haffner glaubt, ohne diese  Aufrüstung der Reichswehr im Osten wäre es Adolf Hitler nicht möglich  gewesen, in der Zeit nach dem Januar 1933 so schnell eine kampffähige deutsche Truppe aufzubauen.

So hatte es viele Entwicklungen gegeben, die Rapallo ermöglicht haben. Nur hatten diese verschlungenen Wege offensichtlich nur wenige zur Kenntnis genommen.

Parallelen zu heute?

Man kann, wenn man will, eine Parallele zur Krise ziehen, die sich um die Ukraine zusammengebraut hat. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 kritisierte Wladimir Putin das, was er die «monopolare Welt» nannte, also die ihm überhaupt nicht genehme Vorherrschaft der USA.

Putin sagte:

«Aber was ist eigentlich eine monopolare Welt? Wie man diesen Terminus auch schmückt, am Ende bedeutet er praktisch nur eines: Es gibt ein Zentrum der Macht, ein Zentrum der Stärke, ein Entscheidungs-Zentrum. Es ist die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört. Das hat natürlich nichts mit Demokratie gemein. Weil Demokratie bekanntermassen die Herrschaft der Mehrheit bedeutet, unter Berücksichtigung der Interessen und Meinungen der Minderheit.»

Putins Kampf gegen US-Hegemonie

Was sich damals anbahnte, nämlich der Kampf Putins gegen die US-Hegemonie, kulminiert heute in der – natürlich durch gar nichts zu rechtfertigenden – militärischen Einkreisung und der tödlichen Bedrohung der Ukraine durch russische und belarussische Truppen und die bevorstehende Invasion des Landes.

Die Frage bleibt: Kam diese dramatische Entwicklung wirklich so unvorhergesehen wie der Vertrag von Rapallo, der vor einhundert Jahren ein vermeintlich unwissendes Europa schockierte? Wie einst in Rapallo gab es auch vor der Krise, die sich um die Ukraine zusammengebraut hat, verschiedene Gesprächsformate, um die drohende Eskalation abzuwenden. Wie in Rapallo gab es viele Vorzeichen einer möglicherweise bedrohlichen Entwicklung. Und wie in Rapallo hat man diese Krisenzeichen nicht oder zu wenig zur Kenntnis genommen oder ganz einfach ungläubig verdrängt.

Der Vertrag von Rapallo hat die Jahre bis zur Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 einigermassen gehalten. 

Kleines  Nachspiel

Um die Westintegration der Bundesrepublik zu verhindern, hat Josef Stalin im März 1952 den Westmächten angeboten, die beiden deutschen Teilstaaten zu vereinigen und das so entstandene  Gesamtdeutschland als neutralen Staat in Mitteleuropa zu etablieren. Konrad Adenauer sprach von sowjetischer Propaganda, die USA, Frankreich und Grossbritannien lehnten ab. Dass sich ein neutrales, technologisch potentes Gesamtdeutschland einst mit einer rohstoffreichen Sowjetunion insgeheim verbünden könnte, wurde durch die Westintegration der Bundesrepublik ausgeschlossen. Diesem Ziel diente 1990 natürlich auch die Integration Gesamtdeutschlands – also auch der ehemaligen DDR – in die Nato. Der Sieger schreibt die Geschichte – wie auch nach 1945, als er den Deutschen endgültig die Demokratie brachte.

Das Ergebnis: Die USA wurden von ihrem geopolitischen Albtraum, einer möglichen deutsch-sowjetischen Entente, nie wieder heimgesucht. Und Rapallo war Geschichte – endgültig.

Sebastian Haffner: Der Teufelspakt. Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. Zürich 1988. Bis heute beim Verlag Manesse in  Zürich zu erhalten.

Auch lesenswert ist  Andreas Kappeler: «Kleine Geschichte der Ukraine», C. H.Beck Verlag München, 4. Auflage 2014.

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