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Kommentar 21

Die grössere Zeitenwende

30. August 2022
Urs Meier
Pari Island
Vier Bewohner von Pari Island, Indonesien, verklagen den Schweizer Zementkonzern Holcim. Sie fordern vom Unternehmen Entschädigungen und Senkung der Treibhausgasemissionen bis 2040 um 69 Prozent. Die von tausend Menschen bewohnte Insel Pari nördlich von ist stark vom Klimawandel betroffen. Wegen des steigenden Meeresspiegels kämpfen die Bewohner immer häufiger mit Überschwemmungen. Werden ihre gegen Holcim erhobenen Forderungen vielleicht zum Modell für Betroffene des Klimawandels? (Foto vom 13. August 2022, Keystone/EPA, Mast Ibrahim)

Die Welt steht vor einer Mehrzahl globaler Probleme. Eines davon, die Klimakrise, hat universellen und neuartigen Charakter – und droht gerade deshalb immer wieder in den Hintergrund geschoben zu werden.

Ausgerechnet der zögerliche, wortkarge Kanzler Olaf Scholz war es, der mit dem Begriff «Zeitenwende» das Stichwort der Gegenwart geliefert hat. In seiner Rede vom 27. Februar vor dem Deutschen Bundestag bezeichnete er damit die völlig veränderte Situation Europas nach Putins Angriff auf die Ukraine. Deutschland müsse die Konsequenzen ziehen: Putin mit Sanktionen belegen, die Ukraine vereint mit EU und Nato unterstützen und die eigene Armee kriegstauglich machen.

Diese «Zeitenwende» stellt Deutschland und den Westen auf eine harte Probe, die noch längst nicht bestanden ist. Doch der Begriff muss eigentlich viel weiter gefasst werden, da die aktuellen Herausforderungen der Politik nicht allein den Krieg im Osten Europas betreffen. Veränderungsdruck kommt ja von mehreren Seiten gleichzeitig: Ukrainekrieg, Hitzesommer und Pandemie haben sich zu einem Krisencluster zusammengeballt und die Verletzlichkeit menschlichen Lebens und Zusammenlebens unerbittlich klargemacht.

Die Wucht der drei Ereignisse liegt in ihrem Symptomcharakter. Putins Überfall auf die Ukraine und dessen globale Folgen werfen ein grelles Licht auf die geopolitischen Instabilitäten, die von den Machtansprüchen Russlands und Chinas ausgehen. Die in horrendem Tempo um den Globus tobende Covid-Pandemie ist ein furchterregendes Lehrstück für die menschengemachte Anfälligkeit der Weltgesellschaft für neuartige Krankheiten. Und die auf der Nordhalbkugel aufgetretenen Extremtemperaturen, die mit Dürren und Waldbränden riesigen Ausmasses einhergingen, haben die Realität der Klimakrise brutal demonstriert.

In der Jetztzeit Geschehendes zu beurteilen und historisch einzuordnen, ist allerdings schwierig. Oft stellt sich später heraus, dass man sich getäuscht hat. Uns als Zeitzeugen fehlt die Beobachtungsdistanz. Auch tun wir uns notorisch schwer damit, die Ego- und Eurozentrik eigener Erfahrungen zu erkennen und die Sichtweisen anderer Menschen, anderer Kulturen und anderer Weltgegenden einzubeziehen.

Krieg ist nicht für alle Zeitgenossen das plötzliche und gänzlich unerwartete Ereignis, als das wir Europäer ihn gerade erfahren. Der Schock über Putins Ruchlosigkeit ist die Reaktion einer Weltgegend, die seit dem Zweiten Weltkrieg verschont geblieben ist und den Frieden dadurch für selbstverständlich genommen hat. Aus anderen Perspektiven jedoch ist die Ukraine bloss einer von zahlreichen Brennpunkten, von denen die Welt seit Menschengedenken niemals frei war.

Mit Corona verhält es sich ähnlich. Beunruhigend ist das Phänomen vor allem für den reichen Westen, der sich über seine tatsächliche Anfälligkeit für neuartige Erreger lange hat täuschen können. Viele Länder des globalen Südens hingegen sind ständig mit endemischen und epidemischen Krankheiten konfrontiert.

Einzig die Klimakrise ist nach allem, was man heute weiss, eine für die Welt in historischer Zeit neuartige Bedrohung. Sie hat sich seit der Industrialisierung erst unmerklich, dann mit wachsender Geschwindigkeit aufgebaut und wird bis heute trotz aller Uno-Konferenzen und nationalen Klimapolitiken nicht wirkungsvoll eingedämmt. Paradoxerweise aber wird sie, gerade weil sie universellen Charakter hat, beim Auftreten vordergründiger, rasches Handeln erfordernder Problemlagen (Gasknappheit, Strommangel) leicht in den Hintergrund geschoben.

Vordergründige und klar eingrenzbare Problematiken, so gewaltig ihre Herausforderungen im Einzelnen auch sein mögen, sind leichter anzugehen als die wirklich neuartige, grundlegende und umfassende Krise der Klimaerhitzung. Drohen Lücken bei der Energieversorgung, so ist es mit kluger und glaubwürdiger Kommunikation zu schaffen, die Zustimmung der Bevölkerung für unpopuläre Einschränkungen zu gewinnen. Auch die Coronamassnahmen wurden im allgemeinen breit akzeptiert, weil deren Notwendigkeit einsichtig war.

Bei der Klimafrage hingegen besteht die Schwierigkeit darin, dass sie als einzige der gegenwärtigen Krisen in dem Sinn global ist, dass nur gemeinsame Anstrengungen aller sie bewältigen können. Dies hebt das Thema in eine Höhe, die den Erfahrungs- und Handlungshorizont der Einzelnen übersteigt. Die Klimafrage ist dadurch immer wieder weit weg, obschon sie ja für viele Menschen etwa in Indonesien (siehe das Bild oben) seit längerem und für uns spätestens mit dem Sommer 2022 bedrohlich nahegerückt ist.

Bis die im Blick auf die Klimafrage fällige grössere Zeitenwende konkret wird, braucht es einen breiten weltweiten Bewusstseinswandel. Und der wiederum kommt wahrscheinlich erst in Gang nach einem Schock ähnlich dem Erschrecken über den Krieg mitten in Europa oder der Furcht vor einem neuartigen Virus.

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