
Es gibt sie gar nicht, die eine und einzige Zeit. Doch seit sich die Philosophie mit ihr befasst, verengt sie immer wieder den Blick auf jeweils eine Erscheinungsform von ihr. So aber generiert sie eingeschränkte Welterfahrungen – mit fatalen Folgen.
Sie strömt unentwegt, macht weder Halt noch Pause. Manchmal nimmt sie uns mit, manchmal fliesst sie auch nur an uns vorbei: die Zeit. Wir können ihren Fluss weder stoppen, noch gar umkehren. Sie ist ein Medium, das uns umgibt, in dem wir schwimmen, ohne es fassen zu können. Kein Wunder hat die Zeit die Philosophen über die Jahrhunderte hinweg beschäftigt. Schon Heraklit konstatierte, dass alles fliesst. Und Augustin gestand, dass er nur wisse, was die Zeit ist, solange ihn niemand danach fragt. Damit brachte er ihre Rätselhaftigkeit auf den Punkt.
Näher an unserer Epoche bestimmte Kant die Zeit als «Kategorie», das heisst als eine Grundbedingung, der jegliche menschliche Wahrnehmung unterliegt und ohne die Erfahrung überhaupt nicht vorstellbar ist. Diese Definition der Zeit bleibt allerdings höchst abstrakt und wird der Vielfalt unserer Zeiterfahrung nicht gerecht, denn sie blendet deren ganz unterschiedliche Facetten einfach aus. Hinter Kants Zeitkonzept dürfte die gleichsam mechanische Zeit stehen, die wir von den Uhren ablesen.
Gemessene Zeit
Und die Uhr ist In der Tat wohl das erste, was wir mit Zeit assoziieren, jener Mechanismus, den das Mittelalter erfunden hat, um den Tag in Betstunden einzuteilen. Zuvor waren die Menschen bezüglich der Zeitmessung an die Bewegung der Gestirne verwiesen. Denn um Zeit überhaupt fassbar zu machen, braucht es gleichförmige Zyklen, ob nun astronomische oder jene künstlichen, wie sie das Uhrwerk fabriziert. Durch ihre Anreihung wird die Zeit zu einer Linie, auf die sich Ereignisse abtragen und so in ein klares zeitliches Verhältnis bringen lassen.
Erst mit der Chronometrie gibt es ein eindeutiges Vorher und Nachher, zudem lassen sich mit ihrer Hilfe auch zeitliche Abstände in ihrer Dauer bestimmen. Die gleichförmigen Schwingungen des Pendels bilden ein Gerüst – eine Timeline –, durch das sich der Zeitlauf objektivieren lässt. Ob geschichtliche Grossereignisse oder die Schlaglichter einer privaten Biografie, beides findet sich nach Vorgabe einer getakteten Zeit sauber aufgereiht. Das mag Orientierung in der Zeit verschaffen, doch so klar geordnet erleben wir sie gerade nicht. Die Uhrzeit rückt uns eigentlich nur dann auf die Pelle, wenn sie uns durch feste Termine unter Druck setzt. Es gibt aber immer wieder Momente – vielleicht die schönsten –, in denen wir sie schlicht vergessen.
Gefühlte Zeit
Die gefühlte Zeit stimmt mit dem Takt der Uhren praktisch nie überein; sie kann sich träge hinwälzen, etwa dann, wenn wir sie als unerfüllt empfinden. Der Begriff der Langeweile ist diesbezüglich sprechend: Wenn die Stimulation fehlt, wenn sich die Zeit leer anfühlt, dann beginnt sie sich tatsächlich unangenehm in die Länge zu ziehen, das tut sie im Übrigen nicht weniger, wenn wir etwas gespannt erwarten. Umgekehrt kann sie aber auch wie im Fluge vergehen, sofern uns die aktuelle Umgebung eine Vielfalt anregender Reize bietet. Unsere Aufmerksamkeit ist dann nämlich nach aussen gerichtet und vom inneren Zeitsinn abgelenkt.
Die Älteren kennen auch das Phänomen, dass die Zeit mit fortschreitenden Jahren immer schneller abzulaufen scheint. Wie unendlich lang erscheint im Rückblick der Familienurlaub am Meer und erst recht die eigene Kindheit im Ganzen. Doch spätestens ab der Lebensmitte beschleunigen sich die Dinge, dann gilt der Spruch von Wilhelm Busch: Es läuft die Zeit, wir laufen mit. Es ist etwas Fatales um die Zeit, je weniger man davon hat, desto schneller verfliegt der Rest. Offensichtlich dünnt sich Zeit – vor allem im Rückblick – aus, je mehr sie in Routinen eingeteilt ist, während neue Erfahrungen, spontane Erlebnisse sie quasi auspolstern.
Die Eigenzeit der Dinge
Aber jenseits von gefühlter und gemessener Zeit gibt es noch ein Drittes: die Eigenzeit der Dinge. Nicht alle Gegenstände, die uns in der Erfahrung begegnen, verhalten sich gleich zu und in der Zeit. Ein Stein z. B. liegt ruhig und scheinbar unveränderlich am Rande eines Flussbetts. Natürlich wissen wir, dass das Wasser ihn dorthin getragen und dabei abgeschliffen hat, aber diese Veränderung ist für uns nicht wirklich erlebbar. Noch stärker gilt das für das imposante Profil eines Berges; während der Lebenszeit eines Menschen wird sich dieses kaum merklich verändern und scheint so dem Fluss der Zeit zu trotzen. Nicht umsonst ist Stein zu einer Metapher für das Beständige geworden.
Es gibt aber Gegenstände, die noch weit beständiger sind, nämlich ganz aus der Zeit gefallen. Nehmen wir die Zahlen; die funktionieren nur, wenn ihre Gleichheit mit sich vollständig und unveränderlich ist. Wäre zwei und zwei nur ungefähr vier oder morgen fünf, dann würde das Gebäude der Mathematik in sich zusammenstürzen. Und in der gleichen Zeitlosigkeit müssen wir uns auch logische Gesetze denken, denn sie verdienen diesen Namen nur, wenn sie überall und jederzeit gelten. Es gibt also offenbar eine geistige Sphäre, deren Inhalte der Zeit entrückt sind und insofern feste Haltepunkte für die menschliche Erkenntnis bilden.
Im Bereich der lebenden Natur ist es wieder anders: Pflanzen, Tiere und auch der Mensch unterliegen der Zeit in einer sichtbaren und zugleich besonderen Weise. Sie folgen nämlich einer planvollen Entwicklung. Wenn ich im Wald einen kleinen Spross mit nur vier Blättern sehe, dann weiss ich, dass dieses Pflänzchen sich zu einer mächtigen Eiche auswachsen kann – sofern es genug Licht und Wasser bekommt bzw. nicht zertreten oder abgeweidet wird. Und ich könnte theoretisch das Wachstum dieses Baums verfolgen, nicht bis zum Ende selbstverständlich, weil er mich um ein Vielfaches überleben wird. Lebendiges ist grundsätzlich bewegt, hält sich dabei aber an eine Zeitlichkeit, die gerichtet ist, auf ein Ziel angelegt und insofern in Grenzen berechenbar.
Nehmen wir dagegen die Wolken: Sie treiben am Himmel dahin, blähen sich auf oder schrumpfen, verändern ständig ihre Form, und das alles in völlig unvorhersehbarer Weise. Die Überraschung bildet das eigentliche Faszinosum des Wolkenspiels; da könnte man stundenlag zusehen. Ebenso dem Licht, das durch windbewegtes Laub blitzt, denn auch da gibt es weder Konstanz noch Wiederholung. Die Zeit ist in solchen Phänomenen von allen gezogenen Linien gelöst und auf das reine Moment des Zufalls angelegt. So sind wir bei ihrem Anblick gleichermassen von Erinnerung wie von Erwartung befreit und ganz in eine bewegte Gegenwart getaucht.
Diese Fesselung an die unmittelbare Gegenwart ist auch das Kennzeichen der Zeit, die uns in Träumen umfängt. Denn auch hier gibt es weder Richtung noch Kontinuität. Ich kann im Traum in einem Auto unterwegs sein, und übergangslos rodle ich einen Hang hinunter, dabei sehe ich mir vielleicht sogar selber vom Pistenrand her zu. Was eben war, ist schon wieder vergessen, was kommt, lässt sich nicht voraussehen. Die Zeit verläuft im Traum nicht linear, vielmehr in der Art von Wellenkreisen, die entstehen, wenn jemand nacheinander Steine ins Wasser wirft: Die einzelne Welle entspringt an einem Punkt, breitet sich ringförmig aus und verläuft sich, um schliesslich von einer neuen abgelöst zu werden. So sind wir träumend ins Kurzzeitgedächtnis eingeschlossen.
Fatale Vorlieben für eine einzige Form der Zeit
Es gibt sie also gar nicht, die eine und einzige Zeit, die über alle menschlichen Erfahrungsräume hinweg gleichförmig abläuft. An einzelnen Gegenständen zeigt sie sich kontinuierlich und einigermassen berechenbar, an andern sprunghaft und ziellos; bei bestimmten geistigen Konstrukten ist sie sogar ganz ausgesetzt. Die europäische Philosophie hat sich aber seit ihren Anfängen darauf kapriziert, je eine dieser Zeitformen für das Ganze zu nehmen, ihr den Status des Wesenhaften zuzuschreiben und die andern entsprechend abzuwerten. Damit hat sie immer zum Vornherein das Spektrum möglicher Erkenntnis begrenzt.
Die Platoniker liessen sich faszinieren von der Zeitlosigkeit der Zahlen; entsprechend waren sie auf das Ewige fokussiert. Darin sahen sie das Wahre, nicht in den veränderlichen Gegenständen der Körperwelt. In der Konsequenz haben sie die Aufmerksamkeit von diesen abgezogen und wenig in ihre Erforschung investiert. Die Wahrheit ist in einem solchen Weltbild immer schon da, vollumfänglich und unveränderlich; so haben Neuheit oder Entwicklung praktisch keinen Platz, ja sie gelten sogar als Verirrung, als Abkehr vom Wesenhaften. Diese Haltung setzte sich dann in den Lehren der Kirche fort, die Wahrheit ausschliesslich im tradierten Wissen sah und den Erkenntnisfortschritt lange zu blockieren suchte.
Das ist ihr schliesslich nicht gelungen, und zwar deshalb, weil das Denken der Neuzeit mit dem Platonismus brach und eine andere Form der Zeitlichkeit favorisierte. Damit rückten nun die Gegenstände in den Fokus, die zwar der Zeit unterliegen, dabei aber in ihrem Verhalten berechenbar bleiben. Diese neue Sicht auf die Welt machte den Weg frei für Naturwissenschaft und technischen Fortschritt. Aber auch sie hat ihre Scheuklappen: Indem sie ganz auf Berechenbarkeit setzt, entzaubert sie die Welt; zudem neigt sie dazu, das Zufällig-Akzidentielle, das schicksalhaft Hereinbrechende auszublenden, und überschätzt dabei vielleicht ihre Macht.
Genau dagegen haben Denker wie Nietzsche, Freud oder Heidegger Einspruch erhoben. Sie sahen im rationalen Weltbild wie auch im Verfügungswissen, das ihm entspringt, eine fatale Hybris, die zu einer Selbstentfremdung des Menschen führt. In der Folge wandten sie sich gegen die lineare Zeitform des neuzeitlichen Denkens und verlagerten die Wahrheit in Erfahrungsbereiche, die sich Berechnung und Kontrolle entziehen.
Im Rahmen einer Psychoanalyse etwa blitzt Wahrheit gerade in Träumen auf, aber auch in den spontanen Assoziationen, in Gedanken also, die einfach so kommen, wenn es dem Bewusstsein gelungen ist, sich vom eigenen Spiegelbild abzunabeln. Nach Heidegger und den Existenzialisten haben die Menschen sich offen zu halten für das, was je unerwartet auf sie zukommt, das heisst für eine Zukunft, die sich von vernünftiger Kalkulation nicht einfangen lässt. Nietzsches Dionysos steht für eine Intensivierung des Lebens, Voraussetzung dazu ist aber, dass wir es in seiner Brüchigkeit und Vergänglichkeit annehmen.
Verengungen im aktuellen Zeitbild
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert tritt also ein neues philosophisches Paradigma auf den Plan, in dem gerade das aufgewertet wird, was sowohl der Platonismus wie auch das neuzeitliche Denken in den Hintergrund geschoben haben: Phänomene, die flüchtig sind wie die Wolken, oder Eindrücke, die keinem logischem Verlauf folgen wie unsere Traumbilder. Wahrheit kommt nun Erfahrungen zu, die jede Kontrolle an sich abprallen lassen, weil sie einer sprunghaften diskontinuierlichen Zeit unterworfen sind. Deren Präferierung verspricht nicht weniger als ein entspannteres Sein, letztlich eben Freiheit von den Zwängen einer rechnenden Vernunft.
Aber auch diese Weltsicht ist wieder verengt und wie die früheren exklusiv auf eine ganz bestimmte Zeitform ausgerichtet. Entsprechend blendet auch sie Gegenstandsbereiche aus, welche zum eigenen Zeitverständnis nicht passen. Die Orientierung an einer ungerichteten, diskontinuierlichen Zeit birgt ohne Zweifel ein Freiheitsversprechen; denn die Verpflichtung auf sie löst uns aus den Ketten der Vergangenheit und mag helfen, Zukunftsängste besser auszuhalten. Aber auf der andern Seite ist darin eine «Kultur der Disruption» angelegt, und die befördert Vergessen und Verschwendung; darüber hinaus verführt sie dazu, harte Notwendigkeiten schlicht zu verdrängen.
Das im Laub flimmernde Sonnenlicht bietet eine meditative Erfahrung, indem es uns im Hier und Jetzt versinken lässt; aber irgendwann müssen wir uns doch wieder davon lösen und der Alltagsbewältigung zuwenden. Unter dem aktuellen Zeitverständnis leben wir, als gäbe es kein Morgen, dabei verschliessen wir die Augen vor den Folgen unseres Tuns. Konsequenzen stehen eben nicht im Fokus einer Weltsicht, welche das Gesetzmässige grundsätzlich an den Rand des Blickfelds rückt; insofern wirkt sich die aktuelle philosophische Verengung des Zeitbildes nicht weniger verhängnisvoll aus als die früherer Epochen.
Aufbruch ins Panoptikum der Zeiterfahrungen
Die Philosophie des angehenden 20. Jahrhunderts hat sich mit viel Getöse von der Beschränktheit der älteren Denkschulen abgesetzt, doch in einem entscheidenden Punkt ist sie der Tradition verhaftet geblieben. Auch sie geht weiterhin aus von einer Zeitform, die wesenhaft und allen andern vorgeordnet ist, selbst wenn sie jetzt eine zu Ehren bringt, die bisher schnöde vernachlässigt wurde. Ohne dass das noch thematisiert würde, sitzt unsere moderne Kultur aber jener Philosophie auf. Das macht sie partiell blind, lässt sie nämlich die schlichte Einsicht verweigern, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen.
Um da herauszukommen, bräuchte es allerdings eine eigentliche Revolution des Denkens: nicht weniger als den fundamentalen Bruch mit dem Grundprinzip aller europäischen Philosophie. Wir müssten damit aufhören, alle Erfahrungsbereiche über den gleichen Kamm zu scheren, nämlich den einer einzigen präferierten Zeitform. Das könnte Abhilfe schaffen, denn mit einem offeneren Fokus müssten wir nicht länger diejenigen Erfahrungen aussortieren, welche die herrschende Perspektive als unwesentlich disqualifiziert. Die Welt würde sichtbar in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit, ihre Gegenstände wären uns alle gleichermassen zugänglich, jeder mit seinem eigenen Gesicht in der Zeit.
Das Zeitregime der Gegenwart, das sich mächtig in der Wachstumsideologie niederschlägt, bannt uns in einen allzu engen Horizont. Da geht es um Quartalsergebnisse, um das Schnäppchen, den möglichst raschen Gewinn, um die Stimmung des Wahlvolks kurz vor dem Abstimmungstermin. Längere Perspektiven bleiben aussen vor. Das macht unsere Kultur aber höchst anfällig gegenüber allem, was einen längeren Atem hat. Ein Bruch mit der zeitlichen Zentralperspektive würde den Blick entscheidend weiten; wir könnten so allem, was ist, mit dem gleichen Respekt begegnen: der Wolke am Himmel, die uns durch ihre Flüchtigkeit träumen lässt, ebenso wie jenen ehernen Gesetzen, die aktuell dafür sorgen, dass Wasserkreisläufe global aus dem Takt geraten.