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Fotografie

«Die Erhabenheit und Zartheit dieser Welt»

3. November 2025
Stephan Wehowsky
Perito
Perito-Moreno-Gletscher, Campo de Hielo, Patagonien, Argentinien, 2007 © Sebastião Salgado/Prestel Verlag

Die Bilder von Sebastão Salgado gaukeln keine heile Welt vor. Sie beziehen ihre Kraft aus der inneren Wahrhaftigkeit des Fotografen. Entsprechend zeigt der Band über die Gletscher auch die Folgen der Klimaveränderung. Aber diese Welt gibt in ihrer Erhabenheit immer noch Anlass zum Staunen. 

Die Fotos des Bandes «Gletscher» entstanden in den Jahren von 2005 bis 2011 an verschiedenen Orten. Die Auswahl beginnt mit dem Kluane-Nationalpark in Kanada, es folgen Aufnahmen aus der Antarktis, aus Island, von den Sandwich-Inseln, dem argentinischen Teil von Patagonien oder auch Südgeorgien. Diese Aufnahmeorte kommen in dem Band an mehreren Stellen vor. Es wird nicht klar, nach welchen Gesichtspunkten diese Zusammenstellung erfolgt ist.

Die Schattenseiten der Menschheit

Zunächst ist man gut beraten, die Bilder als solche ohne weitere Erklärungen auf sich wirken zu lassen. Sebastião Salgado hat einen unverwechselbaren Stil. Seit Jahrzehnten fotografierte er ausschliesslich mit Schwarzweissfilmen von Kodak. Im Laufe der Zeit bemerkte er allerdings, dass das Filmmaterial bei den obligaten Scans an den Flughäfen leiden konnte. Also stellte er auf digitale Fotografie um. In aufwendigen Verfahren wird das digitale Bildmaterial nun so bearbeitet, dass am Ende wieder die Charakteristik der Kodakfilme zutage tritt. So konnte er auch seinem Stil treu bleiben.

Der vorliegende Bildband gibt zu den Bildern nur Zeit- und Ortsangaben am Ende des Bandes. Eingeleitet wird er mit einem Essay der italienischen Physikerin und Klimaforscherin Elisa Palazzi. Darin geht es ganz allgemein um das Gletschersterben. Erläutert werden einzelnen Bilder dadurch aber nicht, und dass am Ende zwei kurze Lebensläufe von Lélia Wanick Salgado und Sebatião Salgado stehen, ist zwar sinnvoll, aber zum besseren Verständnis der Bilder tragen diese Informationen kaum bei.

Pinguine
Gletscher auf der Insel Südgeorgien, 2009 © Sebastião Salgado/Prestel Verlag

Schon beim ersten flüchtigen Blättern spürt man geradezu schmerzhaft diesen Mangel. Zum Beispiel gibt es ein geradezu unwahrscheinliches Bild. Salgado hat sich an Land oder auf einem Eisberg so positioniert, dass er durch den Spalt eines Eispanzers hindurch einen Zweimaster fotografieren konnte. Das Bild wirkt geradezu surreal. In «Gletscher» findet man dazu keinerlei Erläuterung.Tatsächlich aber ist Salgado bei seiner Expedition mit einem Segelschiff unterwegs gewesen. Davon erfährt man aus den Texten des Bandes «Genesis», in dessen Zusammenhang die Bilder aus «Gletscher» entstanden sind.

«Genesis» hat eine spezielle Geschichte. Salgado hatte über viele Jahre die Schattenseiten der Menschheit fotografiert. Unter anderem entstanden die Werke «Workers» und «Migrations». Zudem wurde er Zeuge des Massakers der Huti an den Tutsi in Ruanda im Jahr 1994. Diese immensen seelischen Belastungen gingen nicht spurlos an ihm vorüber. Er brauchte einen Ausgleich. Zusammen mit seiner Frau Lélia Wanick Salgado, die ihm seit Beginn ihrer jahrzehntelangen Ehe als ebenbürtige Partnerin zur Seite stand, revitalisierte er in Brasilien ein Stück Land und konnte erleben, wie sich die Pflanzen- und Tierwelt über die Massen erholten.

Der «romantische Traum»

Wie aber konnte er als Fotograf Themen finden, die seiner Seele ebenso gut taten? Seine Frau und er entschieden sich, in einem grossen Projekt jene Gebiete zu dokumentieren, deren Natur und deren Bewohner noch nicht durch die moderne Welt allzu sehr Schaden genommen haben. In seinem vielfach preisgekrönten Film «Das Salz der Erde» hat Wim Wenders geschildert, wie Sebastião Salgado und seine Frau Lélia vor den Hintergründen des Schreckens nach anderen Perspektiven gesucht und sie gefunden haben.

Das Projekt «Genesis» war von Anfang an äusserst ambitioniert angelegt. Im Verlauf von acht Jahren (2004 bis 2011) absolvierte Salgado, zeitweise begleitet von seiner Frau, 32 Reisen. Daraus gingen internationale Ausstellungen und ein opulenter Bildband hervor. Im Vorwort schreibt Salgado: «Dieses Werk ist das Ergebnis meiner Reisen, eine visuelle Liebeserklärung an die Erhabenheit und Zartheit dieser Welt. Doch es ist zugleich auch eine Mahnung, so hoffe ich, dies alles nicht aufs Spiel zu setzen.» Er sei, so fährt Salgado fort, dem «romantischen Traum gefolgt, eine unberührte Welt zu finden».

Cover

Am Anfang dieser Reisen standen die Antarktis und andere Regionen, in denen sich das Eis noch in seiner Majestät zeigt oder zumindest erahnen lässt. Die Bilder des Bandes «Gletscher» entstammen diesen Reisen, und einige Fotos sind bereits in «Genesis» erschienen. Hier beschreibt Salgado auch, unter welchen Bedingungen er arbeitete. Sie waren mit einem 36 Meter langen Schiff unterwegs, dessen Konstruktion dafür sorgte, dass es auftrieb, bevor die Eismassen es zerdrücken konnten. Mehrere Wochen hielten sie sich an der Atlantikküste Argentiniens inmitten von Walen auf. Das sei eines der schönsten Erlebnisse seines Lebens gewesen. «Und wer wäre nicht fasziniert, wenn sich ein 40 Tonnen schwerer Wal in den Himmel wirft und sich dann zurück ins Wasser fallen lässt?»

Das Eisfeld Südpatagoniens ist nach wie vor so unzugänglich, dass Salgado und seine Crew zu Fuss mit Zelten unterwegs waren. Sie hörten das «beständige Grollen der Gletscher, die unter sich Steine und Felsen bergab schieben». Auch hier zeigten sich bereits die Folgen des Klimawandels.

Diese Begleittexte tragen viel zum Verständnis der Bilder bei. Dazu kommen die zum Teil ausführlichen Bildlegenden. Zum Teil spürt man auch hier die Handschrift und die Leidenschaft Sebastião Salgados. Das alles fehlt im Band «Gletscher», obwohl er posthum – Sebastião Salgado starb am 23. Mai  2025 – von seiner Frau und Mitarbeiterin Lélia Wanick Salgado herausgegeben wurde. Aber die Bilder an sich bestechen in ihrer Qualität auch aufgrund des hervorragenden Drucks im Duoton-Verfahren.

Elisa Palazzi, Lélia Wanick Salgado: Gletscher. 128 Seiten, Prestel, Oktober 2025, 45 Euro/58,90 CHF

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