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Buch

Die Deutschen und ihre Nachkriegs-Wunderjahre

29. Dezember 2025
Claudia Kühner
Jähner, Buchtext

Wenn ein Autor deutsche Zeit- und Sozialgeschichte anschaulich erzählen kann, dann Harald Jähner. Das tut er auch wieder in seinem neusten Werk über die Jahre 1955 bis 1967. Er räumt mit manchen Mythen auf, entdeckt verblüffende Zusammenhänge und hat einen Sinn für das Komische wie für die dunklen Seiten.  

Es waren die Jahre des so häufig verhöhnten Miefs und Spiessertums, die Jahre des Wirtschaftswunders und des «Wir-sind-wieder-wer»-Bewusstseins, die Jahre zwischen Konrad Adenauer, Ludwig Ehrhard und Willy Brandt. Die meisten Deutschen ersehnten sich in dieser Zeit eine lückenlose Amnesie des militärischen und moralischen Zusammenbruchs, eine neue Normalität und Moralität und Fatalität. Das mag unser Bild von dieser Epoche sein. Ein Holzschnitt. Wer es sich facettenreich wünscht, greife zum neusten Buch Harald Jähners. 

Quasi alles «neu»

Es liest sich geradezu beschwingend – und ist dabei historisch untadelig seriös. Wie anschaulich dieser Autor sein Land beschreiben kann, wissen wir von seinen früheren Büchern, «Wolfszeit» (2019), über die Jahre 1945 bis 1955, und «Höhenrausch» (2024), über die Jahre von Weimar. Jähner, Jahrgang 1953, lange Jahre Feuilletonchef bei der «Berliner Zeitung», hat die Gabe, die vorherrschenden Mentalitäten einer Zeit mit staunenswerter Eleganz aufleben zu lassen, ob aus sozialer, politischer, ökonomischer oder kultureller Warte. 

Nun also die Folgejahre 1955 bis 1967, «Wunderland». Es ist die Zeitspanne zwischen der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, die sich in einem völlig anderen Land zurechtfinden mussten, und jenen Jahren, in welchen gesellschaftliche Konflikte sich heftig entluden und das Alltagsleben einem rapiden Wandel unterworfen war: die Gewohnheiten, die moralischen Massstäbe, die gesellschaftlichen Konventionen, die Welt der Medien, die Wirtschaft – quasi alles «neu». 

«Wir sind wieder wer»

Wie dies alles zusammenhing, voneinander abhing, nicht aufzuhalten war, erkämpft werden musste, das ist Jähners «Zugriff» auf das vielschichtige Thema. Sein Sinn für Ironie, sein Blick aus dem Augenwinkel … Das macht uns die Lektüre mitunter gar vergnüglich. Doch der Autor weiss, wo Ironie angebracht ist und wo nicht. Ihm ist bewusst, wie kurz die NS-Zeit damals zurücklag, und er zeigt auf, wie sehr sie den Alltag nach wie vor durchwirkte – oft in versteckter oder unbewusster Gestalt. Man denke an die Behördensprache, an Gesetze und Verordnungen, die das Jahr 1945 unbelehrbar überstanden hatten. Die allmächtige Verdrängung. 

Eine höchst hilfreiche Methode des grossflächigen Übertünchens war die unvergleichliche Emsigkeit, wenn nicht schon Arbeitswut der Deutschen, wie sie schon Hannah Arendt Ende der 40er Jahre beschrieben hatte. Und auf den ungesäumten Aufschwung konnte man ja (wieder) stolz sein, zumindest auf ihn. Wobei nicht vergessen gehen sollte, wie sehr ausländische, insbesondere amerikanische Hilfe zum neuen Wohlstand beitrug. «Verdrängung». 

«Gastarbeiter» und erste Supermärkte

Es war nun keineswegs so, dass durchweg geschwiegen, verschwiegen worden wäre. Über den Krieg, so Jähner, wurde vielerorts fortwährend geredet, nur nicht über die Juden. Und man sah sich als Opfer, nicht als Täter. Ausgebombt, vertrieben, vergewaltigt. 

Die thematische Abfolge zeigt Jähners Konzept: Auf die Heimkehr der Kriegsgefangenen folgt der schweisstreibende Bergbau im Ruhrgebiet, bald schon unter Mitwirkung von Heerscharen an «Gastarbeitern». Das Öl setzte dem Bergbau dann freilich ein Ende, und zwar mit gravierenden Folgen für den Arbeitsmarkt. Gleichzeitig erstürmten die Deutschen erste «Supermärkte» und lernten das Versandhaus schätzen, stürzten sich in den Konsum –, was «die Intellektuellen» bald darauf schon zu beklagen wussten. Die Gesellschaftskritik jener Jahre kam oft von rechts, war also keineswegs die Erfindung der «68er». Die Sexualmoral war in allgemeiner Auflockerung, wo nicht Auflösung; sie kannte kein «rechts» und kein «links». 

Flüchtlinge aus der DDR und Playboys

Das wundersam flimmernde Fernsehen löste das Radio ab und «organisierte» das Familienleben neu. Und ins Heim kam das Design, zögernd gewiss, im Grossen jedoch nicht zu übersehen: Kanzlerbungalow. Zu reden gab alsbald auch der Jungfilm, den viele im ernsten Fach sehen wollten. Wahrlich ernsthaft dann der Eichmann-Prozess, die Auschwitzprozesse. Sie konfrontierten die Deutschen mit ihrer Vergangenheit. 

Charakteristisch für Jähners Erzählkompetenz ist sein Blick auf die Interdependenzen, das Zusammenspiel von zeitgeistigen Moden und technischen Entwicklungen etwa. Was hat, zum Beispiel, die neue Erscheinung des Supermarkts – den Einzelhandel dramatisch bedrängend – mit der Ölindustrie zu tun? Es war die Erfindung des Plastiks, in das nun Lebensmittel abgepackt und haltbarer gemacht wurden. Oder warum war der Koreakrieg (1950–1953) gut für den Aufschwung in Deutschland? Wegen der Nachfrage nach Rüstung. Die Schwerindustrie in den Nato-Staaten war völlig ausgelastet, und die Deutschen sprangen in die Lücke. So wie die Werften in Städten wie Hamburg, Bremen, Kiel vom Ölboom profitierten. Parallelen erlebte auch die DDR, die für die Sowjetunion produzierte. Diese baute eine Pipeline in die «Ostzone», wofür wiederum Thyssen die Stahlrohre fertigte. Ein Veto der USA stoppte die «Kooperation» schliesslich (kommt einem bekannt vor …). Dem DDR-Regime half der Aufschwung notabene nicht allzu viel: Drei Millionen DDR-Bürger verliessen bis 1961 das «Arbeiterparadies» und hoben das Bruttosozialprodukt im Westen tüchtig mit an. Und ganz am Rande: Hatten Gammler und Playboys, wie sie nun allenthalben in Erscheinung traten, etwas gemeinsam? Sie verweigerten sich der Arbeit, was in Deutschland etwas erschreckend Neuartiges war.

Erhard – «Vater des Wirtschaftswunders»

Jähner verweist wiederholt auf Spätfolgen früher Fehler. So wurden die verpestete Luft und die Böden im Ruhrgebiet, mit teils üblen Folgen für Gesundheit, Natur, Klima, einfach ignoriert. Willy Brandt prangerte die Luftverschmutzung erstmals 1961 im Wahlkampf an. Sehr viel später dämmerte es allmählich, dass nicht nur Augen und Lungen Schaden nahmen.

Ludwig Erhard, Bundeskanzler von 1963 bis 1966, wurde als «Vater des Wirtschaftswunders» und der sozialen Marktwirtschaft hoch gerühmt. Er förderte den Konsum nach Kräften. Jähner zitiert in diesem Zusammenhang den Kulturkritiker Georg Seesslen: «Erst lasen die Deutschen die Hausbibel, dann «Mein Kampf» und nun den Neckermannkatalog», (den Hans Magnus Enzensberger später einer «Rezension» unter- und mithin über den Kleinbürgergeschmack herzog). Der «kleine Mann» stieg auf in den Mittelstand und konnte sich jetzt mehr leisten denn je. Dass Neckermann wie auch der «Kaufhauskönig» Helmut Horten einst Arisierungsprofiteure waren, das interessierte in der Nachkriegszeit keinen. Jähner erinnert daran. 

«Spiegel»-Affäre und Adenauers Abstieg

Die 60er waren der einzige Zeitabschnitt, in dem die Deutschen überwiegend mit Optimismus in die Zukunft schauten, und das bei einem Wehrbudget von 3,6 Prozent, so hoch wie vorher und nachher nie mehr. Schon damals übrigens klagten die Amerikaner (ohne Wirkung), dass sie im Vergleich zu Europa viel zu hohe Beiträge an die Nato zahlten. 

Langsam arbeiteten sich auch die Medien aus ihrer Konformität heraus. Sehr zum Missfallen vieler Politiker und anderer «Machthaber». Adenauer begriff nicht, dass die Medien der Regierungskontrolle entzogen sein wollten und sollten; er wollte ein Staatsfernsehen gründen. Das jedoch ging gründlich schief und markierte den Beginn seines langsamen Abstiegs. Von Verteidigungsminister Strauss wiederum ist die Spiegel-Affäre 1962 im kollektiven Gedächtnis geblieben. Das Magazin stellte die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik in Frage, wodurch Strauss dem fatalen Irrtum erlag, Journalisten liessen sich für nicht genehme Enthüllungen bestrafen. Bemerkenswert war, wie sich erstmals eine empörte Öffentlichkeit für die Medienfreiheit einsetzte und Strauss in die Knie zwang. Das war in Jähners Meinung auch eine Art Startschuss für die spätere «Apo», die sogenannte ausserparlamentarische Opposition. 

Mythen über die «68er»

Den «68ern» widmet Jähner ein langes Kapitel und räumt mit vielen Mythen auf. So hatten die Aufmüpfigen, wie der Autor belegt, mit ihren Vätern weit mehr gemeinsam, als sie je hatten erkennen wollen – zum Beispiel die «Schlussstrichmentalität». Oder die Verachtung für den Konsum der 50er Jahre, das bescheidene Glück der kleinen Leute, eine Verachtung, die schliesslich im Terror mündete: die Kaufhausbrände. Und ach so viele «Revoluzzer» studierten mit dem Geld der geringgeschätzten Väter gerne dreissig Semester – eine einmalig «verlängerte Pubertät». Und sie waren auch nicht die Speerspitze der «gesellschaftlichen Befreiung», die sie gerne reklamierten. Die hatte nämlich, wie Jähner feststellt, viel früher eingesetzt und war viel breiter getragen.

«Aus den innerlich ausgebrannten, peinlich um Unauffälligkeit bemühten Kriegsentronnenen waren Menschen geworden, die sich wieder einmischen wollten, Konflikten nicht mehr aus dem Weg gingen, Meinungsverschiedenheiten zu schätzen begannen.» So fasst der scharfsichtige Autor nahezu versöhnlich die durchschaute Periode quasi zum Fazit. Sein Buchtitel – «Wunderland» – lässt aufschimmern, dass da auch, aller Analyse entwunden, ein Zauber im Spiel sein konnte.

Harald Jähner: Wunderland. Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955–1967. Rowohlt Berlin, 2025, 479 S.

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