In manchen deutschen Medien werden im Zusammenhang mit verringerten russischen Gaslieferungen düstere Szenarien und Spekulationen über kalte Wohnungen oder stillstehende Fabriken im kommenden Winter verbreitet.
Gewiss gibt es einige Unsicherheiten. Aber in der Öffentlichkeit wird bisher nicht genügend wahrgenommen, dass die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas seit dem Beginn des Ukraine-Krieges radikal reduziert worden ist. Das unterstreicht hingegen mit Nachdruck der britische «Economist» in einem Kommentar.
Nach Angaben der Zeitschrift bezog Deutschland bis zum Februar dieses Jahres 55 Prozent des Gases aus Russland. Inzwischen ist dieser Anteil um mehr als die Hälfte auf 25 Prozent gesunken.
Kaum kalte Wohnungen im Winter
«Thanks to Vladimir Putin, Germany has woken up», überschreibt der «Economist» seinen Kommentar. Das britische Wochenblatt findet, in Deutschland sei durch den Ukraine-Krieg eine in Demokratien eher seltene Entwicklung im Gange: Die Entstehung eines breiten Konsenses darüber, dass in der Wirtschaft und in Sachen Sicherheitspolitik tiefgreifende Veränderungen notwendig seien. Bundeskanzler Scholz habe für diesen deutschen Bewusstseinswandel mit Recht den inzwischen vielzitierten Begriff «Zeitenwende» geprägt.
Als Beispiel für diesen Wandel verweist der «Economist» darauf, dass in Deutschland dank Putins mörderischem Überfall auf die Ukraine ein neu gestärktes Verhältnis zur Nato zum Durchbruch gekommen sei. Eine Folge davon wiederum ist die von einer klaren Mehrheit gestützte Entscheidung zu deutlich erhöhten Verteidigungsanstrengungen. Generell sei in der deutschen Öffentlichkeit eine entschiedene Abkehr von wohlwollenden Putin-Verharmlosungen zu erkennen, wie sie bis zum Ukraine-Krieg – nicht nur in diesem Lande – in verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Zirkeln gepflegt wurden.
Besonders beeindruckt aber ist das britische Journal von den Entwicklungen in der deutschen Energiepolitik, namentlich von der unerwartet schnellen Verringerung der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen. Kamen bis zum Februar dieses Jahres noch 54 Prozent aller Gas-Importe aus Russland, so sind es heute nur noch 25 Prozent. Sollten die Einfuhr-Reduktionen in diesem Tempo weitergehen, dürfte das erklärte Ziel Berlins, bis zum Sommer 2024 kein russisches Gas mehr zu beziehen, unschwer zu erreichen sein. Auch bei der Einfuhr von Erdöl in Deutschland ist der russische Anteil inzwischen auf 12 Prozent gesunken.
Trotz dieses markanten Rückgangs russischer Energielieferungen spricht heute wenig dafür, dass die Deutschen im Winter in kalten Wohnungen frieren müssen. So hat dieser Tage der deutsche Verband für Erdgas, Erdöl und Geoenergie gemeldet, dass die deutschen Gasspeicher bereits jetzt im Sommer zu mehr als 75 Prozent gefüllt seien. Bis zum Beginn der Heizperiode wird damit gerechnet, dass die Speicher praktisch voll sein werden. Damit wäre man auch einigermassen gut gerüstet, wenn Putin im Winter einen Totalausfall russischer Gaslieferungen beschliessen sollte. Die gespeicherten Gasmengen könnten gemäss diesen Informationen ungefähr den bundesweiten Verbrauch für die Monate Januar und Februar 2022 decken.
Die unerwartet hohen Gasspeicher-Stände sind laut dem deutschen Branchenverband vor allem durch einen geringeren Gasverbrauch in diesem Sommer, Importen aus andern Ländern, insbesondere Nordwesteuropa, sowie durch Einsparungen in der Industrie erreicht worden. Die deutsche Regierung hat als Überbrückungsmassnahme für den Ausfall russischer Gaslieferungen grundsätzlich auch eine temporäre Wiederinbetriebnahme von eingemotteten Kohlekraftwerken beschlossen. Ins Auge gefasst wird zudem eine Betriebsverlängerung jener drei noch laufenden Atomkraftwerke, die nach den bisherigen Plänen Ende Jahr stillgelegt werden sollten. Diskutiert wird zudem die Möglichkeit, die bisher in Deutschland verbotene, weil umweltschädigende, Schiefergas-Produktion durch sogenanntes Fracking temporär zu bewilligen.
Erstaunlicherweise scheinen solche Überlegungen bei Scholz’ Regierungspartnern, den Grünen, sogar auf mehr Akzeptanz zu stossen als in der SPD des Bundeskanzlers. Vor Putins Ukraine-Überfall wären solche Projekte in diesen beiden Berliner Regierungsparteien absolute tabu gewesen.
Der für den aussenstehenden Beobachter verblüffend schnell vorankommende Prozess der Ablösung von russischen Energielieferungen zeigt, dass in Deutschland seit dem Februar tatsächlich ein einschneidender Umdenkprozess im Gange ist. Wie stark dieser politisch und wirtschaftlich getriebene Perspektivenwandel bereits tiefere Wurzeln geschlagen hat, kann vorläufig niemand zuverlässig sagen. Sicher ist aber, dass die Ablösung von russischen Energie-Importen die deutschen Bürger und die deutsche Staatskasse zumindest kurzfristig spürbar belasten wird. Wieweit solche Belastungen auch den jetzigen breiten Konsens über die Abkehr von Putins Gashahn ins Wanken bringen könnten, bleibt ebenfalls ein Fragezeichen.
Einsicht in die Fehlinvestition Nordstream 2
Wahrscheinlich hat diese Wende beim Gas-Import aus Russland auch mit der Ernüchterung und Verlegenheit darüber zu tun, dass die Führungseliten in Deutschland so lange und hartnäckig an der Fertigstellung von Nordstream 2, der zweiten Gas-Pipeline von Russland nach Deutschland auf dem Nordsee-Boden, festgehalten hatten. Dabei hatte es nicht an vielseitigen Warnungen und Widerständen gegen dieses Milliarden-Projekt gefehlt, durch das die Gas-Importe aus Russland nach Deutschland und Westeuropa noch einmal massiv zugenommen hätten. Womit zuverlässig noch mehr Euros und Dollars in Putins Kassen gepumpt worden wären.
Das politisch wohl gewichtigste Argument gegen die zweite Nordsee-Röhre betraf die wirtschaftlichen Schäden, die die Ukraine und Polen dadurch erlitten hätten. Russland hätte durch Nordstream 2 durch die Ostsee die Möglichkeit bekommen, die seit Jahrzehnten bestehenden Pipelines durch diese beiden Länder zu umgehen. Damit wiederum wären Kiew und Warschau bedeutende Transiteinnahmen entgangen – oder Moskau hätte die Benützung der alten Pipelines vom politischen Wohlverhalten dieser ehemaligen Ostblockländer abhängig machen können.
Nun hat Putin mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine die Nordstream-2-Pipeline selbst lahmgelegt. Die klaren Warnungen, dass die fertiggestellte neue Röhre nicht in Betrieb gehen werde, wenn er das Nachbarland überfallen sollte, hat er hochmütig in den Wind geschlagen. Nordstream 2 dürfte ein Milliardengrab für die russischen und westlichen Investoren bleiben. Die Entschlossenheit des Westens, sich definitiv von russischen Energielieferungen abzukoppeln, wird so schnell nicht revidiert werden.
Bleibender Schatten auf Merkels Regierungsbilanz
Erklärungsbedürftig bleibt weiterhin, weshalb die langjährige Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Amtszeit die kontroverse Nordstream-2-Pipeline so lange verteidigt und als ein rein wirtschaftliches Projekt gerechtfertigt hatte. Der Vorwurf, sie habe gegenüber Putin zu blauäugig politisiert und ihn zu wenig durchschaut, ist indessen nicht sehr überzeugend – sofern er sich einseitig nur an die Ex-Kanzlerin richtet. Merkel hat Putin während ihrer Regierungszeit unter allen westlichen Politikern am besten gekannt. Sie hat sich namentlich nach Putins Krim-Annexion kaum mehr Illusionen über seine zynische Persönlichkeit gemacht und sie war damals auch die treibende Kraft für die Durchsetzung begrenzter westlicher Sanktionen.
Doch mit der Verrücktheit eines totalen Überfallkriegs gegen die Ukraine hatte die frühere Berliner Regierungschefin offenkundig nicht gerechnet – ebenso wenig wie fast alle ausgewiesenen Russlandkenner, ihre eigenen Koalitionspartner und die grosse Mehrheit unter den damaligen westlichen Regierungschefs. Dennoch wirft Merkels Festhalten am Nordstream-2-Projekt, das Putin nun selber torpediert hat, nachträglich einen bleibenden Schatten auf ihre Regierungsbilanz.
Umso positiver sind die gewichtigen Fortschritte zu werten, die Europas stärkste Wirtschaft beim Ausstieg aus der russischen Gas-Abhängigkeit in wenigen Monaten erzielt hat.