Direkt zum Inhalt
  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
Debatten

Der verhexende Zauber der Ideologie

3. Mai 2025
Eduard Kaeser
Debatten

Ideologien – sagt ein Bonmot – sind wie Mundgeruch. Man nimmt den eigenen nicht wahr. Ideologien vertritt immer nur der andere. Man selbst hat Ideen. Damit ist eine kognitive Asymmetrie in der politischen Debatte angesprochen - genauer: das Unvermögen, diese Asymmetrie zu erkennen. 

Derzeit vor allem zu beobachten auf «heissen» Studiengebieten wie Ökologie, Klimaforschung, Gendertheorie oder Postkolonialismus. Hier kann man sich kaum noch äussern, ohne gleich den Ideologievorwurf an den Kopf geschmettert zu kriegen. Häufig bedient sich der Vorwurf eines simplen rhetorischen Kniffs. Er operiert und diffamiert mit der Endung «ismus»: Ökologismus, Klimatismus, Neoliberalismus, Populismus, Genderismus, Wokismus, Szientismus …

Eine erkenntnistheoretische Problematik

Die Problematik ist es wert, nicht bloss als politische, sondern als eine tiefere, erkenntnistheoretische behandelt zu werden. Denn tatsächlich gibt es keine Erkenntnis ohne Ideen. Ideen beeinflussen unsere Erfahrung der Welt, auf eine lockere oder eine rigide Weise. Und wir befinden uns immer schon in einem – wie die Philosophen sagen – hermeneutischen Zirkel von Ideen, wenn wir die Welt deuten. Aus diesem Zirkel können wir nicht ausbrechen. So weit, so harmlos. 

Weltdeutungen werden in dem Moment zu Ideologien, wenn sie vergessen, dass sie Deutungen sind und nicht die Welt. Und schädlichen bis verhängnisvollen Einfluss üben sie dann aus, wenn sie unser Denken auf einen einzigen Gesichtspunkt festlegen wollen, der für alle verbindlich sein soll. There is no alternative – das ist die Urlosung aller Ideologie. 

Paradigmatische Ideen

Was ist der Unterschied zwischen Idee und Ideologie? Ich möchte der Frage eine andere Fassung geben: Was kennzeichnet gute Ideen? Ich tue dies, um einen Begriff zu reaktivieren, den man so inflationär gebraucht hat, dass von ihm nur noch warme Luft übrig geblieben ist: Paradigma. 

Der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn prägte den Begriff in den 1960er Jahren. Er wies mit ihm auf ein typisches Vorgehen in den Wissenschaften hin. Forscher bilden stets Denkkollektive, in denen bestimmte Denkstile vorherrschen: paradigmatische Ideen. Sie binden Forschergruppen zeitweilig an bestimmte Erklärungsmodelle, legen Erkenntnisstrategien fest, ohne damit einen Exklusivitätsanspruch zu erheben. Paradigmen zünden ein gedankliches Licht, in dessen Kreis grosse Erkenntnisausbeute winkt. Newtons Idee, dass zwischen dem fallenden Apfel und der Erde die gleiche Kraft wirkt wie zwischen Planeten, war paradigmatisch. Ebenso Daltons Idee, dass Moleküle sich aus Atomen unterschiedlicher Masse zusammen­setzen. Darwins Idee von der Abstammung der Arten. Pasteurs Idee der Mikrobe als Krankheitsursache. Barbara McClintocks Idee, dass Gene ein- und ausgeschaltet werden können. Crick und Watsons Idee, dass unser biologisches Erbe in der Struktur des DNA-Moleküls codiert ist. Alan Turings Idee, dass alles, was wir Rechnen nennen, von einer Maschine übernommen werden kann. Die Folge lässt sich beliebig erweitern. Und sie ist nicht auf Wissenschaft beschränkt. 

Beispiel Rassentheorien

Ideen sagen: So könnte es sein. Sie eröffnen einen explikativen Kontext: Sie wollen erklären. Irgendwann, wenn ihre Erklärkraft erschöpft ist, werden sie aufgegeben. Nicht so Ideologien. Ihre Kernfunktion ist nicht explikativ. Sie sagen: So ist es! Ideologien sind Wissensregimes. Sie wollen Denkmacht ausüben, ja, Denkdiktatur. Und sie wollen sie erhalten. Ideologien sind oft von einer Konsistenz, wie man sie auch bei Geisteskrankheiten beobachten kann. 

Zum Beispiel ist die Idee explikativ, dass Merkmale und Fähigkeiten von Menschen zum Teil durch ihre «Natur» – ihr  Genom – bestimmt sind. Zur Ideologie wird sie in einem nicht-explikativen Kontext. Man kann dies an der Idee der unterschiedlichen Rassen sehen. Sie stammt ursprünglich aus der Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts. Anfänglich erklärte sie bloss den Unterschied der Menschen. Schon im frühen 19. Jahrhundert, mit dem aufkommenden Kapitalismus und Kolonialismus, diente sie als «wissenschaftliche» Legitimierung einer hierarchischen Ordnung der Menschen, das heisst als ideologische Rechtfertigung des Sklavenhandels. 

Beispiel Gendertheorien

Die Gendertheorien sind ein aktueller Ableger dieser Debatte. Sie wehren sich gegen die Zuschreibung der Geschlechtsidentität allein im Namen der «Natur». Kritikerinnen und Kritiker der Binarität «dekonstruieren» diese «Natur» als eine soziale Macht, die Andersartige in das Prokrutesbett von traditionellen Normen zu zwängen sucht. Normen aber sind keine Fakten, sie beruhen auf einer Übereinkunft der Menschen. Und Übereinkünfte kann man, soll man hinterfragen, wenn sie eine nicht mehr zeitgemässe Verhaltenskonformität stützen. Das ist eine emanzipatorische Idee, die nichteindeutigen Geschlechtern ihre soziale Anerkennung gewährt. Die Idee wird zur Ideologie, wenn sie sozusagen ins Gegenteil umschlägt, die Biologie als sekundär herabstuft und das Geschlecht zum beliebig wählbaren – womöglich technisch herstellbaren – «Accessoire» erklärt.

Moralische und aktivistische Aufladung. Beispiel Orientalismus

Ein Indiz für den Übergang von der Idee zur Ideologie ist die moralische oder aktivistische Aufladung. Zum Beispiel bei postkolonialen Studien. Gerade eines ihrer paradigmatischen Werke – Edward Saids «Orientalismus» – zeigt dies auf exemplarische Art. Saids Grundidee lautet, dass es «den» Orient nicht gibt. Er ist ein Konstrukt westlicher Interessen, Begehrlichkeiten und Träume, das den Orientalen erst zum «Anderen» macht – das heisst, «Othering» betreibt. Eine durchaus diskussionswürdige Idee, spornte sie doch an, tradierte Klischees über «den» Osten als Instrumente westlicher Machtinteressen zu entlarven. Inzwischen ist sie ironischerweise pervertiert zu einem neuen binären Raster von Gut und Böse, mit dem man alles «Westliche» und «Koloniale» als «böse» verdammt. Die Kulturwissenschaftlerin Monika Albrecht hat kürzlich diese Ideologisierung sehr prägnant beschrieben: «Wer Saids Ideologie verinnerlicht hat, sieht keinen Widerspruch darin, dass (…) Postkolonialisten selbst ein ständiges ‘Othering’ des Westens betreiben. (…) Der Provinzialismus des postkolonialen Denkens zeigt sich nicht zuletzt in seinem hartnäckigen Festhalten an Denkmustern, die trotz aller gegenteiligen Beteuerung das Gut-Böse-Schema der kolonialen Welt mit umgekehrten Vorzeichen reproduzieren.» 

Der Appell an die Fakten

Aber kann der Widerstreit der Ideologien nicht durch Berufung auf «harte» wissenschaftliche Fakten gelöst werden? Die Frage, so unschuldig sie klingt, missversteht den «Schiedsspruch der Fakten», den wir angeblich von der Wissenschaft zu akzeptieren haben. Tatsächlich beruht er auf einem Konsens der Forscher, der oft aus einem komplizierten Prozess widerstreitender Ideen resultiert. Auch Wissenschaftler verpflichten sich Normen, etwa jener der Fehlbarkeit: Spricht die Evidenz der Beobachtung oder des Experiments gegen eine Idee, dann ist diese einer kollektiven Prüfung zu unterziehen, womöglich über Bord zu werfen. Aber gerade paradigmatische Ideen sind gegenüber solchen Prüfungen oft resistent. Das heisst, je erfolgreicher ein wissenschaftliches Lösungsmuster, desto leichter vergisst man seinen Mustercharakter. Man identifiziert die Beschreibung mit dem Beschriebenen: So wie die Idee die Welt beschreibt, so ist die Welt. 

Beispiel Szientismus

Die Berufung auf Fakten verkehrt sich in eine Ideologie, wenn sie den wissenschaftlichen Alleinerklärungsanspruch erhebt. Die Ideologie ist bekannt als Szientismus. Sie hat verschiedene Erscheinungsformen, gut und oft kaum wahrnehmbare. Gut erkennbar ist sie vor allem in missionarischen Lobpreisungen der Naturwissenschaft und gleichzeitiger Denunziation anderer Erklärungsformen. So vertritt der amerikanische Neurowissenschaftler Sam Harris die grossspurige These, Fragen der Moral seien «letztlich» durch neurophysiologische Forschung zu entscheiden. Szientistische Tendenzen manifestieren sich etwa in der oft stillschweigenden Meinung, die «harten» naturwissenschaftlichen Disziplinen seien den «weichen» geisteswissenschaftlichen erkenntnistheoretisch überlegen – und müssten deshalb stärker gefördert werden. Ein fataler forschungspolitischer Irrtum.

Gegen den Zauber der «Unhintergehbarkeit»

Ideologische Bedeutungen und Symbole sind sozial verkörpert, in Institutionen, Gesetzen, Praktiken, politischen und wirtschaftlichen Systemen. Das führt oft dazu, dass man die ideologisch geformte Wirklichkeit als das auffasst, «was gegeben ist»: göttliche oder natürliche Ordnung, soziale Hierarchie, liberaler Markt, binäre Geschlechtertrennung, genetisches Schicksal, «von der Natur» zugewiesener ethnischer Lebensraum. Ideologien verhexen unseren Verstand, indem sie Dinge in die Welt zaubern und uns zum Glauben verführen, sie seien «unhintergehbar». Diesen Zauber zu durchbrechen – das ist die Aufgabe von Ideen. Das heisst im Besonderen: den eigenen Mundgeruch entdecken. 

Letzte Artikel

Lasten der Geschichte und dräuende Apokalypse

Patrick Straumann 19. Mai 2025

Amerikas «ICH-MIR-MEIN»-Präsident

Ignaz Staub 19. Mai 2025

Rechtsruck – und keine tragfähige Mehrheit

Thomas Fischer 19. Mai 2025

Rutscht Polen ins rechtspopulistische Lager?

Heiner Hug 19. Mai 2025

Rot ist nicht Rot ist nicht Rot

Eduard Kaeser 18. Mai 2025

Das Kontrastive auf kleinstem Raum

Carl Bossard 18. Mai 2025

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Zurück zur Startseite
Leserbrief schreiben
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.