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Buch

Der gefragte Geschichtspolitiker

26. Oktober 2025
Claudia Kühner
Heinrich August Winkler
Der Historiker Heinrich August Winkler spricht 2015 im Bundestag zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren. (Foto: Keystone)

Der Zeithistoriker Heinrich August Winkler legt kurz vor seinem 87. Geburtstag Erinnerungen an sein Leben als Wissenschafter vor. Der Hörsaal war ihm nie genug. Vielmehr empfand er es auch als seine Pflicht, der Öffentlichkeit immerzu die Bedeutung von Geschichte für die politische Gegenwart vor Augen zu führen.   

Vielleicht ist er einer der letzten grossen «public intellectuals», der mit seinen Büchern und mit seiner starken Medienpräsenz die politisch-historischen Debatten inspiriert: der Zeithistoriker Heinrich August Winkler, Jahrgang 1938.  Keine Zeitung von Gewicht und Anspruch, die ihn nicht seit Jahr und Tag  zu den grossen Fragen unserer Zeit schreiben lässt oder interviewt – sei es zum Zustand der Europäischen  Union, zum Krieg in der Ukraine, zum transatlantischen Bündnis. Und immer wieder zur deutschen Politik. Das verdankt sich der Klugheit seiner Gedankenführung und seinem abgewogenen Urteil ebenso wie seiner Fähigkeit, sich klar und stilsicher auszudrücken.  

Wirken über die Hörsäle hinaus

Solche Klarheit erwartete er immer auch von seinen Fachkollegen. Denn der Zeithistoriker soll die Leute erreichen. Das stand stets im Zentrum seiner Geschichtspolitik. Er adressierte sich stets an das grosse offene, politisch interessierte Publikum und wirkte somit weit über seine Hörsäle hinaus. Dass Stimmen wie der seinigen inzwischen immer weniger Gewicht zugemessen wird, gesteht auch er sich ein – die Aufmerksamkeits-Konkurrenz durch die «sozialen Medien»! Diese Medien halten es bekanntlich mit anderen Qualitäten als denen eines räsonierenden Wissenschafters.

Die Gabe, anschaulich und eingängig zu schreiben, zeigt sich nun aufs Neue in seinen Erinnerungen. Winkler geht es darin ausschliesslich um sein Historiker-Leben und nicht um Familiär-Persönliches. Anders als der grosse Historiker Leopold Ranke (1795–1886), demgemäss der Historiker sagen sollte, «wie es gewesen ist», fragte Winkler zeitlebens nach dem Warum. 

Fragen nach den Gründen für den Nationalsozialismus in Deutschland

Und das gab seinem Buch auch den Titel. Winkler gliedert seine Erinnerungen in drei Kapitel. Im ersten Teil beschreibt er seinen Weg zum Historiker; im zweiten breitet er die zahlreichen politischen Interventionen und Kontroversen aus, an denen er über die Jahrzehnte teilhatte, sozusagen seine «persönliche Zeitgeschichte»; und im dritten schildert er Begegnungen und Erlebnisse. 

Winkler ist Abkömmling einer Historiker-Familie und wuchs nach dem frühen Tode des Vaters 1939 mit der Mutter auf. Kurz vor Kriegsende gelang ihr noch eine reguläre Ausreise aus dem ostpreussischen Königsberg in den Südwesten Deutschlands, in die Nähe von Ulm, weil sie dort eine Anstellung als Lehrerin fand. Winkler breitet die Vita eines seit früher Jugend von Politik und Geschichte Faszinierten und schon bald auch parteipolitisch Engagierten aus. Das Geschichtsstudium lag somit auf der Hand, und in Tübingen wurde Hans Rothfels sein Doktorvater, eine der bedeutenden Historikerfiguren im Nachkriegsdeutschland: jüdisch und  aus der amerikanischen Emigration zurückgekehrt. 

Es sind die Fragen nach dem deutschen Nationalismus, nach den Gründen, die zum Nationalsozialismus führten – «nicht zwangsläufig», wie Winkler sagt, dann die Nachkriegsgeschichte, die deutschen Parteien, die europäische Entwicklung im Rahmen der EU und deren stetige Erweiterung, die Haltung gegenüber Osteuropa schon vor 1989, die Frage nach der Rolle des Nationalstaats heute … Das sind die Themen, die Winkler bis heute beschäftigen. Seine Methode ist die politische Sozialgeschichte, durchwoben mit der Mentalitäts- und Ideengeschichte.

«Der lange Weg nach Westen»

«Der lange Weg nach Westen» (2000) und die vierbändige «Geschichte des Westens» (2009–2015) sind sicher die bekanntesten von Winklers Werken, aber seine gesamte Bibliografie, Mitte der sechziger Jahre beginnend, gibt Zeugnis einer immensen Schaffenskraft.  

Sehr jung trat er der CDU bei. Doch die Angriffe Konrad Adenauers gegen Willy Brandt im Wahlkampf 1961 – den er als Alkoholiker, Frauenheld, uneheliches Kind und vor allem als Emigranten diffamierte – stiessen Winkler so sehr ab, dass er zur SPD wechselte. Ihr ist er treu geblieben; und das hiess für ihn, sich über die Jahre kritisch mit ihr auseinanderzusetzen, insbesondere mit der Parteilinken. Besonders die in seinen Augen verfehlte Ostpolitik – lange nach der Brandt’schen Ostpolitik, die Winkler für richtig hielt – beschäftigte ihn bis in unsere Tage: diese Mischung aus einem falschen Geschichtsbild, das Russland der deutschen Schuld wegen bis heute als Opfer sieht, und einer rein interessendiktierten Energiepolitik, die einem Diktator Putin gegenüber blind blieb.

Winkler interessierte sich schon in jüngeren Jahren für all das, was sich jenseits des Eisernen Vorhangs vollzog. Er befreundete sich mit Bronislaw Geremek, dem polnischen Holocaustüberlebenden, Dissidenten zu Solidarność-Zeiten und späteren Aussenminister. Solche Verbindungen in der Zeit vor 1989 eröffneten neue Perspektiven auf osteuropäische Länder mit deren Gärprozessen, die gerade die SPD nicht erkennen wollte. Sie suchte die «Aussöhnung» mit den Regierungen, nicht die Ermutigung der oppositionellen Kräfte. Es sind Muster, die in grösseren Teilen der Parteilinken weiterhin nachwirken.

Kritik an Merkels Alleingang in der Flüchtlingspolitik

Winklers Erinnerungen konzentrieren sich auf sein öffentliches Wirken, nicht nur als Autor, sondern auch als vielgefragter Rat- und Ideengeber für massgebende Politiker: Kanzler, Bundespräsidenten, Minister. Davon berichtet er in seinem Buch bis ins Detail, manchmal etwas gar detailliert. Er lässt kaum eine Zeitung aus, die ihn um einen Text gebeten, keinen Politiker, der seinen Rat gesucht, keine Lobpreisung und keine Ehrung … Dabei müsste ihm die allgemeine Anerkennung doch (mit den allerbesten Gründen) gewiss sein.

Auffallend, dass Winklers Interesse an der deutschen Regierungsspitze in der Merkel-Zeit abnahm, obgleich man sich aus früheren Zeiten sehr gut kannte. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass der Historiker ein kraftvoller Kritiker ihrer Flüchtlingspolitik wurde. Er hielt den deutschen Alleingang 2015, die impulsive Grenzöffnung, für falsch. Auch in diesem Betracht argumentiert er geschichtspolitisch: Willkommenskultur als kompensatorischer Akt, der zeigen sollte, dass man die «richtigen Lehren» gezogen habe, und gekleidet in ein neues deutsches Sendungsbewusstsein, ein «Moralmonopol». Die mangelnde Absprache mit der EU und die mangelnde strategische Krisenplanung im Kanzleramt hielt Winkler für einen schweren Fehler.

Klar sprach sich Winkler auch gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU aus, einen illiberalen Staat, nationalistisch, dazu unfähig und unwillig, den Armeniermord von 1915/16 ernstlich aufzuarbeiten. Anstelle einer Aufnahme oder allenfalls als Vorstufe dazu plädierte er schliesslich für eine «privilegierte Partnerschaft», ein Begriff, der in den allgemeinen Sprachgebrauch überging. Auch im Blick auf diese Frage stellte sich Winkler wieder der Frage, was den Westen ausmache – Anstoss zu seinen grossen Werken über den Westen.

Gründe für den AfD-Aufschwung in Ostdeutschland 

Etwas kurz kommt in Winklers Autobiografie sein Wirken als Hochschullehrer und die Entwicklung der Universitäten, wie er sie über die Jahrzehnte erlebt hat. Seine Laufbahn führte ihn über die FU Berlin nach Freiburg und ab 1991 zur Humboldt-Universität in Berlin. Immerhin veranschaulicht er, mit welchen Schwierigkeiten es die HU (und er als erster Ordinarius aus dem Westen) zu tun hatte, um den «Geist» der DDR im Lehr- und Studentenkörper zu überwinden. Er beschreibt die Machtkämpfe mit den Kollegen, die frisch aus der Diktatur kamen und teilweise nicht daran dachten, ihre Haltung und ihr Weltbild zu überdenken, beschreibt den ideologischen «Umbau» insgesamt.

An diesem Beispiel illustriert Winkler, warum die «neuen Bundesländer» eine solche Affinität zur AfD entwickelten und wie sie die ursprünglich «westliche» und Euro-ablehnende Partei zu einer rechtsnationalen Truppe umwandelten. Fast sechzig Jahre Diktatur und keine Bewusstseins-Erhellung; dagegen reichlich geschichtsverfälschende «Aufarbeitung» der NS-Zeit zeitigen dann solche Ergebnisse.

Zugespitzt liesse sich sagen, die deutsche Zeitgeschichte sei zu Teilen auch eine der falschen Lehren aus der Vergangenheit, wie sie immer wieder gezogen werden. Kaum jemand erhellt dies so überzeugend wie Heinrich  August Winkler. 

Heinrich August Winkler: Warum es so gekommen ist. Erinnerungen eines Historikers. C. H. Beck, 2025, 288 S., Fr. 44.90

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