Adam Zamoyski hat für seine detaillierten Beschreibungen bislang unbeachtete Briefe, Tagebuchnotizen, Zeichnungen und andere Dokumente ausgewertet. Dabei verbindet er die grossen Linien auf der welthistorischen Bühne mit dem alltäglichen Geschehen aus der Sicht des einzelnen Soldaten und der zahllosen Opfer unter den Bauern und Städtern.
Die Wirkung der Waffen
200 Jahre sind seit diesem Feldzug vergangen, und aus heutiger Perspektive neigt man zunächst zu dem Vorurteil, dass dieser Krieg zwar nicht schön, aber gemessen an den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts so schrecklich nun auch wieder nicht gewesen sein kann. Zamoyski aber beschreibt, wie schon damals die Waffen Wirkungen entfaltet haben, die unsere schwärzesten Phantasien übersteigen. In der Schlacht um Moskau bei Borodino fielen in kurzer Zeit so viele Soldaten wie erst wieder 1916 an der Somme.
Es waren nicht nur die Salven aus Musketen und Kanonen, die in unvorstellbarer Dichte erfolgten, sondern auch die Kartätschen, die eine besonders teuflische Wirkung erzielten. Denn diese Verbindung von Kugeln mit Ketten, die ebenfalls aus Kanonen verschossen wurden, zerriss Soldaten und Pferde. Ein Schlachtfeld war nicht nur mit Toten und Verwundeten übersät, sondern auch mit Körperteilen. Und auf beiden Seiten der kriegführenden Parteien fehlte es nicht selten an Ressourcen, um die Verletzten zu versorgen, die abgerissenen Körperteile einzusammeln und die Toten zu begraben.
Die Jahrhundertkatastrophe
Napoleon trat seinen Feldzug mit der damals grössten Armee der Welt an. Diese Ansammlungen von Menschen, Pferden, Nahrungsmitteln, Waffen, Kleidung und dem übrigen Material erforderten logistische Meisterleistungen. In dem Augenblick aber, in dem diese Logistik aufgrund der Kampfhandlungen oder des Wetters nicht mehr funktionierte, erzeugte die Dynamik der Menge ihre eigenen Katastrophen. Immer wieder schildert Zamoyski, wie Menschen und Tiere überrollt und zerquetscht wurden.
Man kann in dem Feldzug von 1812 ebenso eine Jahrhundertkatastrophe sehen wie im Ersten Weltkrieg. Die Schilderungen Adam Zamoyskis legen das nahe, zumal da er daran erinnert, dass Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ als literarisches Denkmal zu den grössten Werken der Weltliteratur gehört. Geradezu grotesk nimmt sich gemessen an diesen Dimensionen die Tatsache aus, dass weder der Kaiser Napoleon noch der Zar Alexander diesen Krieg gewollt haben. Sie sind in diesen Krieg ebenso hineingestolpert wie hundert Jahre später die europäischen Grossmächte.
Ein Krieg, den keiner wirklich wollte
Noch im Mai 1811 erklärte Napoleon dem russischen Fürsten Schuwalow in vollem Ernst: „Es wäre ein Verbrechen meinerseits, denn ich würde grundlos einen Krieg beginnen, und ich habe, Gott sei Dank, noch nicht den Verstand verloren, ich bin nicht verrückt.“ Der Hintergrund dieser starken Aussage bestand darin, dass Napoleon mit Alexander den Versuch unternommen hatte, eine Entente zu schmieden, die ein Gegengewicht zu England und zu Österreich-Ungarn bilden sollte. Dieser Versuch litt aber unter der Tatsache, dass es zwischen Alexander und Napoleon Differenzen bezüglich Polens gab, und überhaupt der Eindruck entstanden war, dass Napoleon Alexander bei dem Abkommen von Tilsit gehörig über den Tisch gezogen hatte.
Alexander galt in Russland als schwach, aber obwohl man im Adel vollständig die französische Lebensart imitierte, sowieso Französisch und kaum Russisch sprach, gab es gegen das Frankreich der Revolution und den Emporkömmling Napoleon ein massives Ressentiment. Was, wenn sich die französische Ideen von Freiheit und Gleichheit und dann noch der Code Napoleon über Polen weiter nach Russland ausbreiteten und die Leibeigenen aufstachelten?
"All dies wegen nichts!"
Um Stärke zu demonstrieren, massierte Alexander Truppen im Westen. Napoleon hielt dagegen, schrieb aber noch am 6. April 1812 persönlich an Zar Alexander: „Meine militärischen Vorbereitungen werden bewirken, dass Eure Majestät seine eigenen verstärken; und wenn die Nachrichten solcher Handlungen mich erreichen, werde ich mich gezwungen sehen, weitere Truppen aufzustellen: und all dies wegen nichts!“
Zu diesem Zeitpunkt aber hatte Napoleon schon den Zenit seiner Kraft und Kompetenz überschritten. Ihn beeinträchtigten eine Erkrankung der Hirnanhangsdrüse – so wird vermutet - und andere Beschwerden. Aber als Heerführer war er nach wie vor gefürchtet. Der russische General Kutusow nahm zunächst vor jeder entscheidenden Schlacht Reissaus und opferte sogar Wilna und Moskau. Meisterhaft analysiert Zamoyski das Vorgehen beider Seiten und kommt immer wieder zu dem Ergebnis, dass auf beiden Seiten Möglichkeiten nicht gesehen und Chancen verspielt wurden.
Ignoranz und Borniertheit
Und so trieben sie sich gegenseitig in immer tieferes Unglück. Der eisige Winter führte am Ende dazu, dass das französische Heer von ursprünglich 675.000 Mann - zwischendurch war es auf über eine Million angewachsen - auf ganze 18.000 schrumpfte. Was die Kälte, der Hunger und die Strapazen der ewigen Gewaltmärsche bei Mensch und Tier anrichteten, schildert Zamoyski derartig schonungslos, dass die Lektüre quälend wird. Die Zeichnungen von Soldaten, die dem Text beigefügt sind und die Zamoyski erläutert, sind weitere Zeugnisse dieser Trostlosigkeit.
Was ist der Mensch? Zamoyski hat verschiedene Perspektiven. Da gibt es die Ignoranz, die Borniertheit derjenigen, die eigentlich Verantwortung tragen müssten, aber dafür am Hof oder in ihren gesellschaftlichen Kreisen viel zu abgeschottet sind. Und da gibt es die pure Arroganz. Als sich herausstellte, dass sich der Feldzug in den Winter hinein erstrecken würde, versah die polnische Kavallerie die Pferdehufe mit Nägeln, damit die Pferde auf den vereisten Wegen Halt finden. Ausserdem sorgten die Armeeführer für warme Kleidung. Die Polen rieten den Franzosen, ebenso vorzusorgen. Diese lehnten ab. Man habe genügend Erfahrung mit siegreichen Feldzügen und bedürfe solcher Ratschläge nicht.
Irgendwie kommen einem diese Verhaltensweisen nur allzu bekannt vor und man fragt sich, ob das herausragendste Merkmal des Menschen und seiner Gesellschaft die vollständige Lernunfähigkeit ist.
Die Bauern und die Kosaken
Die andere Seite der condition humaine: Zamoyski berichtet von schier unglaublicher Leidensfähigkeit, Zähigkeit und Opferbereitschaft. Aber er berichtet auch, wie schon zu Beginn des Feldzuges auf beiden Seiten gegen die Zivilbevölkerung gewütet wurde. Man habe sich gefreut, als die Russen vertrieben wurden, sagte eine Polin, aber nun wünsche man sie sich zurück. Die Rache der Bauern an den Franzosen war exzessiv, und die Kosaken waren an Niedertracht kaum zu überbieten.
In Schneestürmen und bei tiefsten Temperaturen zog das französische auf dem Rückzug durch Landschaften und Städte, die während des Feldzuges von allen Kriegführenden restlos ausgeplündert waren. Fast jeder Soldat verlor Zehen oder andere Körperteile durch Erfrierungen; manche starben beim Marschieren an der Kälte. Soldaten, die aus der Heimat neu hinzustiessen, starben noch eher, weil sie sich an die Kälte, den Hunger, das Schlafen unter freiem Himmel, die Ruhr und die allgegenwärtigen Flöhe noch nicht adaptiert hatten.
Fälle von Kannibalismus
In all der Verzweiflung und Not assen die Soldaten nicht nur Teile der Pferde, solange diese noch nicht steinhart gefroren waren, sondern es kam auch zu Kannibalismus. Zamoyski fragt, wo die „Schwelle“ zwischen dem Absinken auf blosses Vegetieren und der Bewahrung eines Restes von Würde liegt. Er findet keine allgemeine Antwort, sondern immer wieder Beispiele für Opferbereitschaft und eine Haltung, die selbst das grösste Leid mental überwindet.
Und was zusätzlich unbegreiflich erscheint: Selbst in dieser absolut desaströsen Lage, von der jeder wusste, dass Napoleon der Urheber war, überstrahlte seine Gegenwart trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung alles. Wenn Napoleon da war, weckte er die letzten Lebens- und vor allem Hoffnungsfunken. Wie ist es möglich, dass von einer Person eine derartige Magie ausgeht?
Adam Zamoyski stammt aus einer polnischen adligen Familie. Er wuchs in New York auf und studierte in England. Er bezeichnet sich als „freelance historian“ und hat eine Reihe von erfolgreichen Büchern verfasst, darunter auch eines über Chopin. Sein Buch über den Feldzug von 1812 erschien zuerst 2004 bei HarperCollinsPublishers. Erst 2012 kam es bei C. H. Beck heraus und brachte es in kurzer Zeit schon auf 5 Auflagen. Ein verdienter Erfolg.
Adam Zamoyski, 1812. Napoleons Feldzug in Russland. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting, Verlag C. H. Beck 2012, 720 Seiten