
Keine rhetorische Eskalation: In seiner kurzen Rede zum Tag des «Sieges über Nazi-Deutschland» vermied es Putin, Öl ins Feuer zu giessen. Er danke der russischen Armee für die Verteidigung des «Vaterlands». Der Krieg in der Ukraine, der sich gegen «Nazis» richte, sei eine Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges. Anschliessend gedachte er den 28 Millionen Russen, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Er beendete seine Rede mit: «Auf Russland! Auf den Sieg! Hurra!» Die auf dem Roten Platz versammelten Soldaten antworteten: «Hurra!»
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- Russen stürmen Stahlwerk
- Putin giesst kein Öl in Feuer
- Die üblichen Ausfälle gegen den Westen
- Ben Wallace: «Putin hat verloren»
- 60 Tote in bombardierter Schule
- Tausende flüchten aus russisch besetzten Gebieten
- Was geschieht mit den Kämpfern von Mariupol?
- Selenskyj bittet auch die Schweiz um Vermittlung
Putins zahme Rede
Putin erinnerte an das «sowjetische Heldentum» im Zweiten Weltkieg. Die Verteidigung des Staates sei schon «immer heilig» gewesen. Die russischen Truppen in der Ukraine würden heute für die Sicherheit Russlands kämpfen. Den Westen beschuldigte er, eine «Invasion unseres Landes» vorzubereiten.
Die Nato bezeichnete er als «offensichtliche Bedrohung» für Russland und sagte, seine «spezielle Militäroperation» sei notwendig und die «richtige Entscheidung» gewesen. In Russland darf der Krieg in der Ukraine nicht als «Krieg», sondern muss als «spezielle Militäroperation» bezeichnet werden. Im Vorfeld der Rede war spekuliert worden, dass Putin jetzt der Ukraine den Krieg erklärt, was wahrscheinlich eine russische Generalmobilmachung zur Folge gehabt hätte.
Putin sagte, der Staat werde «alles» tun, um sich um die Familien zu kümmern, die durch den Ukraine-Krieg einen Verlust erlitten haben.
«Der Tod eines jeden Soldaten und Offiziers ist für uns schmerzlich», sagte er.
Putin sprach von der Tribüne am Lenin-Mausoleum aus, von wo aus er die traditionelle Militärparade zum Tag des Sieges in Moskau verfolgte. An der Parade nahmen 11’000 Personen und 131 gepanzerte Fahrzeuge teil.
Der russische Staatschef wiederholte seine impliziten Drohungen mit einem Atomkrieg nicht. Ende April hatte er gewarnt, dass Länder, die während des Krieges in der Ukraine «eine strategische Bedrohung für Russland darstellen», mit «Vergeltungsschlägen» rechnen müssten, die «blitzschnell» sein würden.
Keine Flugzeuge
Die Parade war schlichter als in vorigen Jahren. Geplant war, dass 77 Flugzeuge zum 77. Jahrestag des «Sieges über Nazi-Deutschland» über den Roten Platz fliegen. Wegen des «schlechten Wetters», wie Kreml-Sprecher Peskow sagte, wurde die Flug-Show abgesagt. Während der Parade schien die Sonne über Moskau. Diese Absage führte zu zahlreichen Spekulationen. Militärparaden fanden in 28 russischen Städten statt. 65’000 Militärangehörige nahmen daran teil.
Keine grossen Ankündigungen
«Alle erwarten jetzt etwas», hatte CIA-Direktor William Burns vor Putins Rede gesagt. Er könne es sich nicht leisten, so fortzufahren wie bisher.
Die Spekulationen jagten sich. Wird alles noch schlimmer? Weitet er den Krieg aus? Verfügt er die Generalmobilmachung? Will er gegen die Nato vorgehen? Droht er mit Atomwaffen? Will er die «Volksrepubliken» Donezk, Luhansk und Cherson annektieren?
Auf all das ging Putin während seiner kurzen Rede nicht ein. Er wiederholte nur die mehrmals geäusserten Anschuldigungen gegen den Westen.
Russen stürmen Stahlwerk
Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministers haben die Russen begonnen, das verbarrikadierte Stahlwerk Asowstal in Mariupol zu stürmen. Dies berichtert Al Jazeera. Unterstützt werden sie dabei von Panzern und Artillerie. Im Werk befinden sich vermutlich etwa 1500 bis 2000 ukrainische Kämpfer. Ukrainische Quellen befürchten, dass die Russen bei der Erstürmung ein Blutbad anrichten werden. Ebenfalls im Stahlwerk harren noch vermutlich einige hundert Verwundete aus.
Warum feiert Russland am 9. und nicht am 8. Mai?
Der Westen feiert am 8. Mai das Endes des Zweiten Weltkrieges. In Russland, das den höchsten Blutzoll des Krieges bezahlt hatte, finden die Feiern und Gedenkveranstaltungen einen Tag später statt. Warum?
Am 7. Mai 1945 kapitulierte die Deutsche Wehrmacht bedingungslos. Im Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte in Reims unterzeichnete der deutsche Generaloberst Alfred Jodl um 02.39 Uhr die Kapitulationsurkunde. Die Kapitulation tritt an allen Fronten am Tag danach, am 8. Mai um 23:01 Uhr mitteleuropäischer Zeit, in Kraft. Zu dieser Zeit, kurz vor Mitternacht, war es in Russland bereits der 9. Mai. Deshalb die Feiern einen Kalendertag später. Siehe: Historisches Bild (unten auf dieser Frontseite).
Schwere russische Verluste
Russland hat in den ersten 75 Kriegstagen 1’634 Panzer, Schützenpanzer und bewaffnete Militärfahrzeuge verloren. Dies geht aus einer «von Analysten verifizierten» Aufstellung der BBC hervor. Zudem verloren die Russen 163 Artilleriebatterien, 58 Drohnen, 39 Helikopter, 26 Kampfflugzeuge und 6 Schiffe. Die Ukraine gibt viel höhere Zahlen an.
Je nach Quelle starben im Krieg zwischen 15’000 und 25’000 russische Soldaten. Acht Generäle kamen ums Leben.
«Putin hat verloren»
Der britische Verteidigungsminister Ben Ballace ist überzeugt, dass Putin den Krieg verliert. «Er muss sich damit abfinden, dass er auf lange Sicht verloren hat, und er hat absolut verloren.» Wallace hält einen Sieg der Ukraine für sehr wahrscheinlich, Entweder würden die Russen wieder auf russisches Territorium zurückgedrängt oder die Armee müsse sich grundlegend neu formieren.
Sechzig Tote in der Schule
Die Befürchtungen bestätigen sich: Bei einem russischen Raketenangriff auf eine Schule im ostukrainischen Bilohoriwka sind 60 Menschen ums Leben gekommen. Dies bestätigt Präsident Selenskyj. Bei den Toten handelt es sich um Zivilisten, die in der Schule Zuflucht gesucht hatten. 30 Personen konnten nach dem Angriff lebend und teils verletzt aus den Trümmern geborgen werden. Bilohoriwka liegt in der Nähe von Luhansk. Die Gegend ist zur Zeit hart umkämpft.
Tausende flüchten
Während Russland den Sieg über Nazi-Deutschland feiert, flüchten Tausende aus den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten. In der südukrainischen Stadt Saporischschja kommen täglich Busse mit Geflüchteten aus dem ostukrainischen Donbass und aus den südukrainischen Gebieten um Cherson und Mariupol an.
«Das Böse verliert immer»
Russland werde diesen Krieg verlieren, denn das Böse verliert immer», sagt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj am Vorabend des 9. Mai. Russland habe «alles vergessen, was den Siegern des Zweiten Weltkriegs wichtig war». Die ganze freie Welt könne sehen, dass die Ukraine «die Partei des Guten in diesem Krieg» sei.
«Kapitulation kommt nicht in Frage»
Auch am Tag, an dem Russland den Sieg über Nazi-Deutschland feiert, befindet sich das Stahlwerk Asowstal in Mariupol noch immer nicht unter Kontrolle der Russen. Präsident Selenskyj sagte am Sonntag, zwar sei es jetzt gelungen, die Zivilisten im Werk zu evakuieren, doch eine Rettung der Kämpfer sei «äusserst schwierig».
Vermutlich befinden sich noch etwa 1500 bis 2000 ukrainische Soldaten im Werk. Zwei ihrer Kommandanten hatten am Sonntag in einer Video-Medienkonferenz erklärt, eine Kapitulation komme für sie nicht in Frage. «Eine Kapitulation ist für uns inakzeptabel, weil wir dem Feind kein so grosses Geschenk machen können», sagte Leutnant Samoilenko, einer der Kommandanten. «Wir sind im Grunde genommen tote Männer. Die meisten von uns wissen das. Deshalb kämpfen wir so furchtlos.»
Selenskyj sagte: «Die russischen Soldaten, die russische Armee, die Armeeführung und die politische Führung der Russischen Föderation wollen unsere Soldaten nicht herauslassen.» Er habe die Türkei, Israel, Frankreich, die Schweiz, die Vereinten Nationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz um Vermittlung gebeten. Zuletzt hatte auch der Vorsteher der grössten ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, Onufrij, den russischen Präsidenten Wladimir Putin gebeten, den ukrainischen Soldaten freien Abzug zu gewähren.
Die Ukraine befürchtet, dass die russischen und prorussischen Soldaten ein Blutbad anrichten, wenn es ihnen gelingt, ins Innere des Werks zu gelangen.
Die südostukrainische Hafenstadt Mariupol ist seit mehreren Wochen weitgehend unter russischer Kontrolle. Am Wochenende wurden die letzten eingeschlossenen Zivilisten aus dem Stahlwerk der Stadt evakuiert. Im Innern des Werks sollen sich neben den Kämpfern auch viele Verwundete befinden.
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Journal 21