Zwei Jahrhunderte lang war Ideologiekritik eine Waffe im Kampf für eine gerechtere Welt. Seit die kritischen Gegenkulturen jedoch salonfähig geworden sind, ist diese Waffe stumpf. Die Aussicht auf eine Politik der Mündigkeit ist zur Fata Morgana mutiert.
Ideologiekritik ist eine zentrale Errungenschaft der Aufklärung, und sie sie folgt seit den Anfängen einem ganz einfachen Muster, beruht im Wesentlichen nämlich auf dem Nachweis, dass die allgemeinen Werterahmen – sei’s die göttliche Ordnung, die nationale Selbstbehauptung oder die liberale Rechtsordnung – letztlich nur die Herrschaft partikularer Eliten rechtfertigen. Der Allgemeinheitsanspruch dient als Sprühnebel über dem rücksichtslosen Kampf für das Eigeninteresse. Dabei ist Ideologie allerdings nie einfach nur Lüge, denn die Ordnung, welche sie propagiert, kann aus der jeweiligen historischen Perspektive heraus durchaus einleuchten und für eine Mehrheit zustimmungsfähig sein.
Das Problem besteht einzig darin, dass nur eine Minderheit an den Segnungen teilhat, welche das geltende Wertsystem allen verspricht. Vor Gott sind alle Menschen gleich, aber die einen dürfen im Wald jagen, während andere dafür ausgepeitscht oder aufgehängt werden; der bürgerliche Rechtsstaat verspricht gleiches Recht für alle, doch die entsprechende Gesetzgebung schafft und zementiert ökonomische und soziale Ungleichheiten. Der Anspruch des Werterahmens ist nicht durch die Wirklichkeit gedeckt, die unter seinem Regime entsteht.
Der innere Kampfplatz
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert haben Nietzsche und Freud eine neue Variante dieser Kritik entwickelt, die den Kampfplatz aus den öffentlich-rechtlichen Foren in den privaten Innenraum verschob. Was hier hinterfragt wurde, war die bürgerlich-christliche Moral, die, je nach Akzentuierung, ewiges Seelenheil oder zumindest souveräne Herrschaft über einen selbst versprach – sofern man denn hinlänglich viel von der eigenen Sinnlichkeit opferte.
Freuds Neurosenlehre hat im Grunde aufgedeckt, dass dieser Deal für viele nicht aufgeht. Sie mögen sich abstrampeln, ihre Triebe, ihre abweichenden – hysterischen – Sichtweisen von sich wegzuhobeln versuchen, aber sie werden sie dadurch nicht los. Für sie bleibt das Versprechen, Herrschaft im eigenen Haus zu erlangen, eine Chimäre. Damit wirkt es als Schuldmaschine, die alle Lebensfreude frisst und auf Dauer krank macht.
Die Funktionstüchtigen und das Gegennarrativ
Nun waren die Viktorianische, die Wilhelminische oder die Franz-Josephinische Gesellschaft aber keineswegs durchgängig neurotisiert, wie das der Linksfreudianismus über Jahrzehnte hinweg gern suggeriert hat. Zumindest hat die Mehrheit ihrer Mitglieder leidlich funktioniert, konnte arbeiten und sich vermehren. Da müssen einige also Mittel und Wege gefunden haben, um aus den auferlegten Opfern für sich Gewinn zu ziehen. Möglicherweise fanden sie Ventile für den Druck der Versagungen. Vielleicht hatten sie auch nur eine dickere Haut oder bezogen ausreichend Trost aus der gesellschaftlichen Anerkennung, die ihnen die strikte Selbstzucht einbrachte.
Mit Sicherheit hat es damals Menschen gegeben, die sich mit der konventionalistischen Moral nicht bloss passiv-aggressiv arrangierten, sondern es schafften, sich in deren Rahmen relativ frei zu bewegen und darin sogar etwas wie Glück zu empfinden. Für all die andern aber boten Nietzsches Invektiven gegen die Moral oder die Psychoanalyse jetzt wenigstens Gegennarrative, die ihre Leiden erklärten und darüber hinaus Perspektiven auf ein ganz anderes Leben öffneten. Gegen die übermächtige Ordnung erhob sich ein Einspruch, der den Monolith ein Stück weit aufklaffen liess.
Der Umschlag von der Utopie ins Gesetz
Bis zu den Eruptionen von 68 blieb diese Konstellation im Wesentlichen erhalten: auf der einen Seite der bürgerlich-moralische Werteblock, ein «System», das konventionelle Einpassung verlangte, auf der andern eine Gegenkultur, die ein Jenseits der Korsetts versprach, indem sie sich an der Utopie einer befreiten Individualität orientierte. Es gab quasi die Matrix, aber auch Wege, daraus auszubrechen, und die Hoffnung, ihren Zwängen zu entkommen. Es gab die Wahl zwischen der Fixierung auf die Vergangenheit und dem Aufbruch in eine bessere Zukunft.
Zur Tragik von Revolutionen gehört aber, dass mit ihrem Erfolg die Utopie von gestern zum Gesetz von heute wird, dass somit die ursprünglichen Freiheitsversprechen zu einem neuen System von Zwängen kristallisieren. Im Grunde ist genau das auch den individualistisch orientierten Gegenkulturen widerfahren, als sie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auf einmal salonfähig wurden. In alternativen Milieus kam man jetzt nicht mehr durch, wenn einem auch nur der geringste Mief des Spiessig-Gewöhnlichen anhing; hier war Anderssein nicht nur angesagt, sondern geradezu Pflicht – auch wenn damit längt kein persönliches Risiko mehr verbunden war.
Clash der kulturellen Orientierungen
Natürlich hat sich jetzt nicht jener geschlossene linksliberale Mainstream formiert, den die populistische Rechte heute so gern beschwört und der vorgeblich die Meinungsfreiheit bedrohen soll. Die reale kulturelle Situation in den postindustriellen Gesellschaften gestaltete sich um einiges komplexer: Da gab es weiterhin die «schweigende Mehrheit», nämlich eine ganz beträchtliche Zahl von Menschen, die nach wie vor bürgerlich-konservativen Orientierungen anhing – wenn jetzt auch in konsumistisch weichgespülten Varianten.
Aber auch die Apertisten, die modernistischen Anhänger der Öffnung, bildeten keinen einheitlichen Block. Die «Logik des Singulären» (Andreas Reckwitz) spaltete sich von Anfang an in zwei Hauptströmungen, den Wirtschafts- und den Kulturliberalismus, deren politische Visionen bis heute geradezu konträr angelegt sind. Während der erste vor allem gegen den Staat und dessen repressiven Zugriff auf die Wirtschaftsfreiheit rebelliert, widersetzt sich der letztere viel grundsätzlicher jeder Art von Homogenisierung. Das Ziel dieser fundamental machtkritischen Vision ist die Befreiung der Individuen von jeder Art von Gleichheitszwängen, von politisch-kulturellen, von wirtschaftlichen, mittlerweile sogar von biologischen.
Individualisierung des Man
Es gibt sie also definitiv nicht, jene Hyperindividualisierung, die alle ultimativ zur politischen Korrektheit und zu Gendersternchen verdonnert. Doch in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen ist sehr wohl eine Logik leitend geworden, welche auf Singularisierung aus ist: einmal in der Welt der Wirtschaft, die Wachstum über eine unausgesetzte Schaffung neuartiger Waren und Dienstleistungen erzeugen muss, dies zudem unter dem Diktat einer ungebremsten Konkurrenz, welche letztlich allen eine permanente flexible Anpassung aufzwingt. Und angesichts der rasch wechselnden Marktverhältnisse steht da jede und jeder für sich allein. Auf der anderen Seite das Soziotop der meist akademisch gebildeten neuen Eliten (Reckwitz), das sich um das Credo einer alternativlosen Pluralität schart und sich demonstrativ gegen diejenigen abgrenzt, welche das entsprechende Bekenntnis – aus welchen Gründen auch immer – nicht teilen.
In den alten bürgerlichen Moralvorstellungen wurde eine Art von konfektionierter Identität hochgehalten: Man hatte möglichst gleich zu sein wie alle andern, musste sich also in letzter Konsequenz die Eigenheit austreiben, um allgemeine Anerkennung zu finden. In den liberalisierten gesellschaftlichen Sektoren gilt heute aber ein quasi konträrer Imperativ: Hier muss man möglichst anders sein als alle andern, sogar anders, als man selbst gestern war. In der Folge gilt es alles von sich wegzuschleifen, was einen rückständig, gewöhnlich, letztlich eben alt aussehen lässt.
Und auch bei diesem Spiel gibt es – wie ehedem unter der homogenen bürgerlichen Moral – Gewinner und Verlierer: solche, die über die nötigen charakterlichen wie materiellen Ressourcen verfügen, um bei der permanenten Umwälzung mitzuhalten, und andere, die diesbezüglich schlechter aufgestellt sind. Dass die ersteren sich mit den liberalen Credos identifizieren können, erstaunt nicht weiter. Sie profitieren davon auf der ganzen Linie: wirtschaftlich, weil erfolgreich antrainierte Flexibilität sie voranbringt, und auf der kulturellen Ebene durch die Fähigkeit zu jenem dynamisch-innovativen Selfstyling, das in ihrem Umfeld eben Prestige verschafft.
Wohin soll ich mich wenden?
Was aber ist mit all den andern, die im wirtschaftlichen wie im kulturellen Ranking zurückfallen? Ihnen bringen die liberalen Visionen gewiss keine Freiheit. Sie empfinden diese vielmehr als ein Joch, als auferlegte Bringschuld, die sie nie werden begleichen können. Sie hängen fest in alten Prägungen, haben nicht die Mittel, um auf dem Jahrmarkt individualisierter Eitelkeiten auf sich aufmerksam zu machen, plagen sich darüber hinaus vielleicht durch die Aussicht auf eine Zukunft, in der Existenzsicherung nicht mehr garantiert ist. Kein Wunder, dass sie gegen die liberalistische Modernisierung anketzern, denn genau dort sehen sie die Wurzel ihrer Misere. – Und wo bitte geht’s zum entsprechenden Gegennarrativ? Das eben bietet aktuell der Populismus mit dem Angebot eines bornierten, rückwärtsgewandten Ressentiments.
Über die ganze bürgerliche Ära hinweg, die unter der Vorherrschaft des Allgemeinen stand, gab es einen substanziellen Einspruch, zuerst durch eine sozial und politisch ausgerichtete Ideologiekritik, später durch die Dekonstruktion der Moral, die von Nietzsche und Freud angeschoben wurde. Die erste bot konkrete gesellschaftliche Zukunftsperspektiven (die durch die ausgebliebene Realisierung dann allerdings enttäuscht wurden), die letztere wenigstens Schutzräume, in denen es Empfindsameren erlaubt war, ihre Eigenheit zu kultivieren. Es gab zwar die Dominanz des Ganzen, daneben jedoch auch die Ahnung, dass dieses Ganze das Unwahre sein könnte.
Nachdem sich aber die gegenkulturelle Utopie in relevanten gesellschaftlichen Bereichen zum bestimmenden Regulativ verhärtet hat, sind solche Schlupflöcher selbst prekär geworden. Was mal draussen war, ist jetzt drinnen: Die Alternative ist ein Teil des Bestehenden, und so scheint die Matrix sich über uns geschlossen zu haben. Die alte Ideologiekritik geistert in linksliberalen bis anarchistischen Milieus zwar noch herum, aber nur noch als ein Schatten ihrer selbst. Sie arbeitet sich ab an Gespenstern der Vergangenheit, hackt herum auf angeblichen Homogenisierungszwängen, die in der behaupteten Konsequenz so wenig existieren wie der von rechts beschworene linke Mainstream.
Ende der Aufklärung?
Faktisch ist die Ideologiekritik als Gegenentwurf zum bestehenden gesellschaftlichen Rahmen hirntot, und neben ihr liegt das Projekt der Aufklärung auf der Intensivstation. Wenn die nicht auch noch das Zeitliche segnen soll, müsste jemand den Stachel wieder anspitzen, der die Gummizelle zum Platzen bringen könnte. Nur, wer soll das tun wollen? Die Wirtschaftsliberalen sicher nicht, denn die profitieren direkt von den aktuellen Beschleunigungsschüben. Man könnte aus ihrer Sicht einzig noch die staatlichen Bremsklötze demontieren, welche die Fahrt unnötig behindern. Die Reaktionären brauchen rein gar nichts zu machen, die können händereibend zuschauen, wie ihnen die Liberalen beider Couleur durch den ideologischen Tunnelblick Scharen von realen und gefühlten Verlierern zutreiben.
Bleibt also noch das äusserst diverse linksliberale Fähnchen, welches sich selbst immerhin als Erbe und Statthalter eines Projekts versteht, das einmal auf Mündigkeit aus war. Doch enttäuscht durch die Entgleisungen des real existierenden Sozialismus, folgt diese post-68er Linke schon lange der Tendenz, eher kulturalistische als machtpolitische Felder zu bewirtschaften. Im Grunde hat sie sich in eine eigene, äusserst schillernde Blase verabschiedet, wo es um die Befindlichkeit von immer periphereren Minderheiten geht bzw. um gesellschaftspolitische oder ökologische Ideale, deren Folgekosten gern ausgeblendet werden. Der Blick auf die eigene ideologische Abschottung fehlt gänzlich und damit auch der Blick auf Probleme, die nicht ganz so periphere Minderheiten derzeit umtreiben.
Zu diesem Blick allerdings müssten sich die Linken wohl herablassen, wenn sie je einmal wieder Wahlen gewinnen wollen. – Die Populisten dagegen haben ihn schon, aber ohne jede Absicht, an der Lage der Benachteiligten auch nur das Geringste zu ändern.