
In der Ukraine, im Nahen Osten und anderswo finden schrecklichste Verletzungen des internationalen Völkerrechts statt. Sollte das «Internationale Komitee vom Roten Kreuz», die Geburtshelferin und Hüterin der Genfer Konventionen, die Verbrechen nicht etwas lauter und rabiater anprangern?
Diskretion ist das oberste Prinzip des IKRK. Während andere Organisationen, wie Amnesty International, Médecins sans frontières oder auch die Uno, Verletzungen des humanitären Völkerrechts öffentlich anprangern, arbeitet das in Genf ansässige IKRK im Stillen. Diese Arbeitsteilung funktioniert. Die IKRK-Delegierten wirken diskret und versuchen so, Verbesserungen zu erreichen. Diktatoren lieben es nicht, öffentlich in den Medien angeprangert zu werden. Im Stillen jedoch sind sie ab und zu zu Konzessionen bereit, erleichtern Haftbedingungen, setzen Todesurteile aus, tauschen Gefangene und Leichen aus.
Das IKRK, früher eine rein schweizerische Organisation, ist eine Erfolgsgeschichte. Millionen Menschen haben profitiert, sind gerettet worden. Die Genfer Organisation tauscht Kriegsgefangene aus, holt Geiseln ab. Hunderttausende politische Gefangene erhielten bessere Haftbedingungen, Angehörige erhielten Informationen von Verletzten oder Gefangenen – dank dem IKRK.
Hüterin der vier Genfer Konventionen
Zudem ist die Organisation humanitär tätig, verteilt Lebensmittel, baut Zelte auf, bietet medizinische Versorgung. Millionen Menschen sind vor dem Hungertod gerettet worden. «Auf dem Terrain», wie es im IKRK heisst, also in den Kriegs- und Konfliktgebieten, leisten die Delegierten der Genfer Organisation teils hervorragende Arbeit – unter oft schrecklichen Bedingungen.
Aber das IKRK ist nicht nur eine humanitäre Organisation, die Hungernden, Verletzten und Gefangenen hilft. Sie ist die Hüterin der vier Genfer Konventionen und ihrer drei Zusatzprotokolle. Zusammen mit der Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen hat das IKRK das Mandat (die Aufgabe und die Pflicht), die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu überwachen und Schutz für die Opfer von bewaffneten Konflikten zu fordern. Hauptziel ist es, «die durch Krieg verursachten Leiden zu mildern» (4. Konvention/Artikel 13).
Für den Schutz jener, die nicht am Krieg beteiligt sind
Die Schweiz ist stolz auf die Genfer Konventionen – zu Recht. Henri Dunants Bericht über die Grausamkeiten der Schlacht bei Solferino hatten Schweizer Politiker, Diplomaten und Professoren während Jahrzehnten dazu bewogen, ein internationales Regelwerk zur Vermeidung schlimmster Auswirkungen des Krieges auszuarbeiten. Die Initialzündung zu den vier Genfer Konventionen und ihren Zusatzprotokollen kam aus der Schweiz. 1864 wurde die erste Genfer Konvention unterzeichnet. Seither strömten Tausende und Abertausende Diplomaten nach Genf und arbeiteten in unzähligen Konferenzen an der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts.
Die Genfer Konventionen sind das Rückgrat des humanitären Völkerrechts. Sie verbieten Kriege nicht, wie oft fälschlicherweise behauptet wird. Aber sie stellen Regeln auf, damit Kriege etwas weniger grausam sind. Vor allem wollen sie die Zivilbevölkerung vor den Auswirkungen der Kriege schützen. Der Schutz jener, die nicht am Krieg beteiligt sind – das ist der Kern des humanitären Völkerrechts. Artikel 35 des ersten Zusatzprotokolls der Genfer Konventionen lautet: «In einem bewaffneten Konflikt haben die am Konflikt beteiligten Parteien kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Methoden und Mittel der Kriegführung.»
Verletzungen der Übereinkünfte gelten als «Kriegsverbrechen»
Die wichtigste Forderung der Genfer Konventionen ist: Die kriegführenden Parteien müssen unterscheiden zwischen zivilen und militärischen Zielen. Ohne dass es so explizit gesagt wird: Militärische Ziele können im Krieg angegriffen werden, zivile Ziele müssen unter allen Umständen geschont werden. Städte und Dörfer dürfen nicht bombardiert werden. Spitäler und Schulen sind geschützt. Also: Angriffe auf Militärflughäfen, Kasernen oder Panzer: ja. Angriffe auf Zivilisten, die Bombardierung von Städten, Spitälern, Schulen und Wohnhäusern: nein.
Punkt 5 von Artikel 85 des ersten Zusatzprotokolls sagt: Schwere Verletzungen dieser Übereinkünfte gelten als «Kriegsverbrechen». Artikel 75 Absatz 7a sagt: Personen, die beschuldigt werden, die Konventionen zu verletzen, «sollen in Übereinstimmung mit den anwendbaren Regeln des Völkerrechts verfolgt und vor Gericht gestellt werden».
Auch Russland, auch Israel
Diese Regeln sind heute weitgehend ins Völkergewohnheitsrecht eingegangen und gelten für alle Staaten und alle Konfliktparteien. Die vier Genfer Konventionen sind von allen Ländern der Welt ratifiziert worden. Auch von Russland. Obwohl Israel keine Vertragspartei des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen von 1977 ist, hat der Oberste Gerichtshof Israels deren wichtigste Bestimmungen ausdrücklich als Völkergewohnheitsrecht anerkannt.
Das humanitäre Völkerrecht ist eine der grössten Errungenschaften der Menschheit. Natürlich kann man darüber lächeln oder sogar spotten. Im Krieg würden doch keine Regeln gelten, im Krieg sei eben alles erlaubt, heisst es. Natürlich verhindert das humanitäre Völkerrecht keine Kriege. Aber es macht sie vielleicht da und dort doch ein wenig humaner – oder besser: weniger brutal. Dazu kommt, dass jene, die das Völkerrecht verletzen, öffentlich als Kriegsverbrecher stigmatisiert werden. Selbst Putin liebt es nicht, als Kriegsverbrecher dargestellt zu werden.
Begrenzte Möglichkeiten
Wie kann man die Genfer Konventionen zur Geltung bringen? Die Möglichkeiten sind begrenzt. Deshalb ist es wichtig, dass man ständig darauf hinweist, wenn Verletzungen stattfinden. Oder besser, indem man in die Welt hinausschreit, dass da oder dort Völkerrechtsverletzungen stattfinden. Es gibt Politiker, die tun das. Auch der Uno-Generalsekretär tut es.
Früher taten es auch einige Präsidenten des IKRK. Cornelio Sommaruga zum Beispiel, einer der engagiertesten IKRK-Präsidenten, tat es immer wieder. Und zwar lautstark und energiegeladen. Auch Carl Jakob Burckhardt und Alexandre Hay taten es.
Wer kennt Mirjana Spoljaric Egger?
Und die jetzige IKRK-Präsidentin? Hand aufs Herz: Wie viele Menschen, wie viele Politiker in der Welt, wie viele Journalisten, kennen den Namen Mirjana Spoljaric Egger? Sie ist seit Oktober 2022 Präsidentin des IKRK. Die in Kroatien geborene, sehr erfahrene Schweizer Diplomatin, arbeitete unter anderem für die Uno, das Schweizerische Aussenministerium und für das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO). Wenige haben eine solche Erfahrung. Konsultiert man die Schweizer Mediendatenbank (SMD), in der die Artikel aller grossen Medien vertreten sind, erscheint der Name von Mirjana Spoljaric innerhalb der letzten zwölf Monate 311 Mal. Immerhin. Sie versuchte auch, den Bundesrat endlich aufzurütteln. Immerhin.
Doch genügt das? Die Communiqués, die das IKRK verbreitet, werden kaum zur Kenntnis genommen. Die Medienabteilung in Genf war noch nie ein Glanzstück der Organisation. Die meisten Mediensprecher (und Sprecherinnen) hatten von Medien wenig Ahnung. Viele waren Duckmäuser und sahen ihre Aufgabe vor allem darin, Journalisten abzuwiegeln. Bis ein IKRK-Communiqué verbreitet wird, geht es durch ein Dutzend Hände. Und jeder und jede will noch etwas abschwächen, weil man Angst hat, mit dieser oder jener Formulierung vielleicht dann doch anzustossen. Ergebnis ist ein verwässerter, langweiliger Text.
«Ich ertrage die Bilder aus dem Gazastreifen nicht mehr»
In der Ukraine und im Nahen Osten, im Gazastreifen, geschehen die schrecklichsten Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg. Da genügen verwässerte und verklausulierte Communiqués nicht. Das IKRK, als Hüterin des humanitären Völkerrechts, hat die moralische Pflicht, Menschenrechtsverletzungen laut, vehement und öffentlich anzuprangern. Wieso rüttelt Frau Mirjana Spoljaric nicht auf, wieso schreit sie an Medienkonferenzen nicht in die Welt hinaus, welch schreckliche Kriegsverbrechen hier begangen werden?
Klar, bei humanitären Aktionen soll das IKRK diskret sein und im Hintergrund arbeiten, doch bei der Verletzung der Genfer Konventionen nicht. Wer denn sonst, wenn nicht das IKRK als einer der höchsten moralischen Instanzen, soll die Verletzungen des Völkerrechts anprangern?! Cornelio Sommaruga sagte mir einmal: «Wenn wir schweigen zu den Völkerrechtsverletzungen, machen wir uns mitverantwortlich für den Horror, der auf der Welt geschieht.» Mirjana Spoljaric Egger schweigt nicht, aber man hört sie nicht.
Diplomatie ist gut, Frau Spoljaric, aber zu viel Diplomatie ist nicht gut. Stehen Sie endlich auf die Hinterbeine. Hören Sie nicht auf die Apparatschiks in Ihrem Haus. Werden Sie lauter! Hat man Angst vor der Reaktion der Israel-Lobby?
Vielleicht hätte man alt Bundesrätin Ruth Dreifuss zur IKRK-Präsidentin wählen sollen. Sie, eine Jüdin, sagt jetzt klipp und klar: «Ich ertrage die Bilder aus dem Gazastreifen nicht mehr.»
PS: Der Autor dieser Zeilen hat zwanzig Jahre für das Schweizer Fernsehen über das IKRK in Genf berichtet und hat mit IKRK-Delegierten zahlreiche Reisen in Kriegs- und Konfliktgebiete unternommen. Er hat auch heute gute Kontakte zu IKRK-Kreisen.