
Hektisches Tun auf der einen, stilles Wirken auf der anderen Seite. Auf keinem anderen so kleinen Raum finden sich in der Schweiz so viele klösterliche Oasen und spirituelle Kontrapunkte wie auf Zuger Gebiet. Gedankengang durch einen Kanton voller Kontraste.
Der Mensch ist kein Entweder-oder-Wesen. Obwohl er das Eindeutige und Klare stets aufs Neue herbeisehnt. Er ist immer ein Sowohl-als-auch. Er ist beides in einem: Goethes «zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust». Manchmal droht uns das zu zerreissen. Doch dieses Ambiguitätsgefühl gehört zum Menschen, das Fernweh wie das Heimweh beispielsweise oder das Aktive und das Kontemplative. Er ist, nach Odo Marquard, Schnelligkeit und Langsamkeit in einem. Das eine ist eben immer des anderen Korrektur. (1)
Diese menschliche Dialektik ist mir in den letzten Tagen wieder einmal bewusst geworden: Eine Sitzung in der pulsierenden Stadt Zug, im hektisch-dynamischen Getriebe dieses internationalen Finanz- und Handelsplatzes, dieses schweizerischen Abu Dhabi, wenn wir dem Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann folgen. Dort, wo das Kapital ruht, wie die Hamburger Wochenzeitschrift DIE ZEIT vor einigen Jahren ihren Beitrag zum Kanton Zug überschrieben hat. (2)
Ein spiritueller Kontrapunkt
Nach dem Meeting empfinde ich nur eines: das Verlangen nach Stille; es ist die körperlich spürbare Sehnsucht nach Ruhe. 15 Minuten Fahrt Richtung Cham, dann nach Hagendorn und weiter in die weitläufige Reussebene. Und schon tauche ich in eine ganz andere Welt ein, in den friedlichen Mikrokosmos des Zisterzienserinnen-Klosters Frauenthal. Der kleine Konvent geht auf das Jahr 1231 zurück; er liegt auf einer Insel des Lorze-Flusses, fernab jeder grösseren Siedlung. Rundum Wald, Wiesen und weite Felder. Es ist das älteste Zisterzienserinnen-Kloster der Schweiz. Nur in der Reformationszeit nach 1500 war das monastische Leben kurz unterbrochen.
Welcher Kontrast! Dort das laute Treiben einer Mini-Metropole, hier das bedächtige Verweilen in einer abgeschiedenen Idylle, geprägt vom klösterlichen Wirken der Nonnen. Vielleicht so etwas wie ein spiritueller Kontrapunkt zum dynamischen Strom der boomenden Ökonomie und der globalen Finanzindustrie im Raum Zug.
Ein Sakralraum auf kleinstem Gebiet
Ganz allein sitze ich in der eindrücklichen Klosterkirche mit ihrem prächtigen Rokokoausbau. Ein kunsthistorisches Juwel! Auch hier die wohltuende Stille. Sie lässt die Gedanken schweifen. Da wird mir erstmals so richtig bewusst, wie viele klösterliche Inseln der kleine Kanton Zug umfasst.
Zug steht ja der katholischen Tradition der Innerschweiz nahe. Das hat den Kanton geprägt.
Lange Zeit auch als eine Art Sakralraum. Auf keinem so kleinen Raum finden sich in der Schweiz so viele Klöster wie auf Zuger Gebiet. Vom Zisterzienserinnenkloster Frauenthal bei Hagendorn, über das Frauenkloster und ehemalige Lehrerinnenseminar Heiligkreuz bei Cham hinauf zum eindrücklichen Kapuzinerinnenkloster Maria Hilf auf dem Gubel.
Ein frühes Lehrerinnenseminar
Ganz in der Nähe liegt das Institut der Menzinger Schwestern. 1844 kam Maria Bernarda Heimgartner mit zwei Mitschwestern nach Menzingen. Die drei Frauen eröffneten noch im gleichen Jahre eine Mädchenschule – in erbärmlichen materiellen und finanziellen Verhältnissen. Es gab «weder Schultafel noch Dinte». Gegen ein bescheidenes Entgelt unterrichteten sie fast hundert Mädchen; gleichzeitig bildeten sie neue Lehrschwestern aus. Daraus entwickelte sich das Lehrerinnenseminar «Bernarda» Menzingen; bis 2006 hatte die bekannte Schule Bestand. Die Schwestern bildeten gegen 7‘000 Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen aus.
Von den beiden Klöstern auf Menzinger Boden geht es bei der Jesuiten-Kommunität von Bad Schönbrunn bei Edlibach, dem heutigen «Lassalle-Haus», vorbei und hinunter in die Stadt Zug zum ehemaligen Kapuzinerinnenkloster Maria Opferung und zum früheren Kapuzinerkloster – heute: katholische Gemeinschaft der Seligpreisungen. Nicht zu vergessen sind die Petrus-Claver-Schwestern mitten in der Stadt.
Alle diese Gemeinschaften bedeuten eine Art Ruhepunkte und auch Rückzugsorte inmitten einer hektischen Welt.
Auf kleinem Raum eine so grosse Vielfalt
Noch immer verweile ich in der hellen Rokokokirche des Klosters Frauenthal. Gedankenverloren. Ist es dieses Kontrastive, das den Kanton Zug so attraktiv macht? Möglicherweise.
In den nationalen Rankinglisten landen Stadt und Kanton Zug regelmässig an der Spitze. Die tiefen Steuersätze allein können es ja nicht sein, was Zug im Ratingvergleich so zugkräftig und fast exklusiv macht. Das Geheimnis – vielleicht nicht ganz so gut gehütet wie das der Zuger Kirschtorte – dürfte in der attraktiven Nähe von Gegensätzlichem liegen. Kaum ein Kanton weist auf so kleinem Raum eine so grosse Vielfalt auf. Was für die Schweiz gilt, zählt speziell für den Kanton Zug: ein Maximum an Variation, vielleicht sogar von Ambivalenzen auf einem Minimum an Raum – eine «Suisse en miniature».
Der Plural im Kleinen
Die Stille des Kirchenraums führt zum spekulativen Gedankenspaziergang. Vielleicht ist es der Kontrast von Städtischem und Ländlichem, von Vitalem und Verträumten, von pulsierendem Leben und meditativer Stille, der belebende Gegensatz von Modernität und Tradition, von puritanisch-zwinglianischem Zürich und barock-lebensfroher Innerschweiz, welche Zugs Magnetwirkung begründet. Ich kann nur vermuten.
Die Gedanken ziehen weiter. Den Kanton Zug prägt, so sinniere ich, das Kontrastive von Weltoffenem und Kleinräumigem, das Nebeneinander von wirtschaftlicher Dynamik und intakter Natur, von Tal und Berg, von See und Wald. Es ist auch das Miteinander von kultureller Vielfalt und landschaftlicher Schönheit, von wohlhabendem Ambiente und gut funktionierender Infrastruktur. Eben: Der Plural im Kleinen, der das scheinbar Unvereinbare munter kittet.
Die Dialektik des menschlichen Lebens
Gedanken über Gedanken im schmucken Kirchlein der Zisterzienserinnen – ganz abseits. Hier die Stille, das Kontemplative, dort draussen das Pulsierende des Alltags. Das erinnert daran: Die Welt ist voll von Ambiguität. Die Poesie der Vielfalt, der Differenz und des Widersprüchlichen auch. Sie machen das Leben bunt und deutungsoffen. Eine Welt ohne Ambiguität kann es wohl gar nicht geben – allen heutigen «Vereindeutigungsversuchen» zum Trotz. (3) Die Mikrowelt des Kantons Zug unterstreicht metaphorisch das Attraktive des Kontrastiven.
(1) Roman Bucheli: «Sind wir noch altmodisch genug?». In: NZZ, 23.03.2019, S. 12
(2) Thomas Buomberger: Hier ruht das Kapital. In: DIE ZEIT, 24.07.2008, S. 21
(3) Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam, 2023, S. 12