Macht sich auf der Croisette ein italienischer Frühling bemerkbar? Mit «Rapito», «Il sol dell’avvenire» und «La Chimera» haben drei Produktionen aus Italien den Wettbewerb der zweiten Festivalwoche dominiert. Sie sind von Filmemachern gedreht, die nicht nur verschiedenen Generationen angehören, sondern auch in stilistischer und thematischer Hinsicht grundsätzlich andere Wege beschreiten.
Man fragt sich, was bemerkenswerter ist: Marco Bellocchios schier unerschöpfliche Schaffenskraft oder die qualitative Konstanz seiner Inszenierungen. Allein in den letzten vier Jahren hatte der mittlerweile 83-jährige Altmeister seinen Werkkatalog um gut zehn Filmstunden anreichern können: Auf «Il Traditore», ein episches Werk über einen reuigen Mafiaboss, folgten ein dem Tod seines Zwillingsbruders gewidmeter Dokumentarfilm («Marx può aspettare») sowie die sechsstündige Fernsehserie «Esterno notte», die die vielschichtigen Konsequenzen der Entführung von Aldo Moro nachzeichnet.
Heute, fast sechzig Jahre nach seinem Erstlingswerk «I pugni in tasca» zeigt er «Rapito», die Chronik einer Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten Entführung eines jüdischen Kindes durch die katholische Kirche. Die Eckdaten der Geschichte sind historisch verbürgt und fanden damals auch in der internationalen Presse ein Echo: 1858 ordnet das Inquisitionsgericht von Bologna an, den siebenjährigen Edgardo Mortara von seiner Familie zu trennen, da das Kindermädchen den Jungen heimlich getauft habe, um ihm ein Nachleben in der Hölle zu ersparen.
Frontale Analysen der italienischen Institutionen
Die jahrelangen Versuche der jüdischen Eltern, ihren Sohn zurückzuholen, scheitert am Dogma der Kirche, für die Edgardo mittlerweile ein Katholik ist: «Non possumus» ist die unveränderliche Antwort des Papstes auf deren Appelle, sich auf Gottes Wille berufend. Und als die weltliche Macht der Kirche gebrochen ist – 1870 wurde der «Stato Pontifico» ins italienische Königreich eingegliedert –, verdrängt die Politik das öffentliche Interesse am Schicksal des Kindes.
Seinen frontalen Analysen der italienischen Institutionen und kollektiven Störungen hatten Bellocchio zu einigen seiner schönsten Arbeiten verholfen: «Vincere» kam auf Geburtsjahre des Faschismus zurück, «Fai bei sogni» illustrierte das gesellschaftliche Tabu des Suizids. Hier lässt der Regisseur den Pomp der Kirche mit der psychologischen Impotenz der Priester kollidieren. Die grandiose Architektur des Vatikans bildet den Hintergrund zu träumerischen, teils blasphematorischen Szenen – in einem Alptraum sieht sich der Papst von einer Horde Rabbiner umringt, die ihn beschneiden wollen. Mit grosser Effizienz werden auch die Spannungen im politischen Bereich eingeführt: Die krachende Sprengung der Aussenmauern eines Römer Priesterseminars, mit der das Risorgimento dem Machtmonopol der Kirche ein Ende setzt, zählt zu den furiosesten Geschichtsbildern, die im jüngeren Kino zu sehen waren.
Bissiger Schwanengesang
«Il sol dell’avvenire» von Nanni Moretti ist ein humorvoller, teils bissiger Schwanengesang auf die Politik im Allgemeinen und seine eigene Arbeit als Künstler im Speziellen. Giovanni (Nanni Moretti) ist ein Filmemacher, dem sämtliche Felle davonschwimmen: seine Frau und Produzentin Paola (Margarita Buy) verlässt ihn, der französische Koproduzent (Mathieu Amalric) macht Pleite und wird von den Carabinieri auf dem Set verhaftet. Die vier Elefanten, die er für seine Dreharbeiten benötigt, sind unpässlich, auch die Schauspieler seines Historiendramas – sein Film handelt von einem ungarischen Wanderzirkus, der 1956, während des Budapester Aufstands, in Rom gastiert – scheinen keine seiner Regieanweisungen respektieren zu wollen.
Fragt man sich einen Augenblick, ob Moretti in seiner Doppelrolle als Regisseur und Figur seiner selbst in bekannte Gewässer abdriftet, sieht man rasch vom neuen Tonfall eingenommen, der dem pessimistisch grundierten Plot eine bisweilen Fellini-hafte Leichtigkeit und Ironie entgegenstellt. Perplex stellt Giovanni fest, dass er definitiv aus der Zeit gefallen ist: Sein dreissigjähriger Dekorateur kann nicht glauben, dass es in Italien einst Kommunisten gab. Süsssauer ist auch Giovannis Konfrontation mit einem jungen Regisseur, der seinen Tarantino-artigen Film Noir mit einer blutigen Exekutionsszene beenden will: Das Gewaltpotential der Szene wird ihn zu einem die Nacht lang dauernden Monolog über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik animieren.
Auge für die Vergangenheit
Wie lassen sich heute Filme inszenieren, wenn die Netflix-Beamten, die in einer unverhofften Wende als rettende Geldgeber einspringen, nur von Algorithmen reden? Moretti findet für seinen Film eine Mischform von Musical und selbstreferenzieller Komödie, die – dies vielleicht eine anerkennende Grussbotschaft an Tarantino – in der unbeschwerten Loslösung von den historischen Fakten eine neue Perspektive findet. Im politischen Vakuum angesiedelt, wird «Il sol dell’avvenire» zu Morettis «8½»: ein aus einer Krise geborener Film, von der er sich gleichzeitig auch eine Befreiung erhofft.
Auch Alice Rohrwacher hat ein Auge für die Vergangenheit, selbst wenn ihre Filmographie stets eine utopische Dimension besitzt. «La Chimera» ist in den achtziger Jahren situiert (im Zug wird noch geraucht, die Nummernschilder der Autos sind schwarz) und taucht in die Welt der Grabräuber ein, die etruskische Grabstätten plündern, um die gestohlenen Objekte auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.
Wunderbare Isabella Rossellini
Der Film eröffnet mit Arthur, einer der «tombarolos», der zu Filmbeginn gerade aus der Haft entlassen wird. Er kehrt zu seinen Kumpanen zurück, zugleich ist er auch auf der Suche nach einer verlorenen Liebe, die nachts durch seine Träume geistert. Wenn er nicht am Graben ist – als Arbeitsinstrument dient ihm eine Wünschelrute, die es ihm ermöglicht, die etruskischen Schätze zu lokalisieren –, unternimmt er ausschweifende Irr- und Rundgänge, die die Handlung immer wieder dezentrieren und neue, vornehmlich weibliche, Figuren einführen.
Da ist etwa eine wunderbare Isabella Rossellini, die eine ruinierte, von missgünstigen Töchtern umgebene Aristokratin spielt und in einem heruntergekommenen Palazzo haust. Später wird auch deren Angestellte und Mädchen für alles, Italia (Carol Duarte), die von einer Opernkarriere träumt, in den Fokus geraten. Während eines Abstechers auf die Oberitalienischen Seen wird Arthur zudem einer kaltblütigen Auktionatorin begegnen (Alba Rohrwacher), die das Diebesgut an internationale Institutionen verkauft.
Mit der Vergangenheit ein lebendiges Verhältnis unterhalten
Das Patchwork als Programm: Im Gespräch erläutert die Regisseurin, dass sie «La Chimera» in 35mm, Super16 und 16mm-Material gedreht habe, um die Zirkulation des Films durch seine diversen Traum-, Zeit- und Wirklichkeitszonen visuell überzeugend darzustellen. Generell sollte die Bildsprache eine ethische Überzeugung spiegeln, sagt sie: Zusammen mit ihrer Kamerafrau Hélène Louvart habe sie sich denn auch weniger um die Perfektion der Einstellungen bemüht, sondern versucht, jeweils den Figuren gerecht zu werden.
Warum sieht sie im Motiv des Grabraubs gerade heute eine besondere Aktualität? «Ich fragte mich», antwortet sie, «warum die Gräber der Etrusker, die jahrtausendelang unangetastet blieben, unversehens geplündert wurden, warum der merkantile Wert der Grabschätze plötzlich wichtiger war als der Respekt vor den Toten». Die Frage des Todes, und «wie wir mit der Vergangenheit umgehen», habe dann insbesondere mit der Pandemie eine neue Dimension erhalten. Zentral sei für sie, fügt sie an, an einer «kollektiven Geschichte» teilzuhaben und mit der Vergangenheit ein lebendiges Verhältnis zu unterhalten: Es sind «die Verbindungen zwischen Leben und Tod, die uns alle vereinen».
Dieses Credo schlägt sich auch in der ästhetischen Offenheit ihrer Arbeit nieder: Fellinis Visionen sind in ihren Filmen ebenso präsent wie der Wirklichkeitsbezug von Roberto Rossellini. Am Ende hilft Arthur ein roter Faden, den Weg aus dem verschütteten Grab zu finden. Rohrwacher baut auf die Schätze des Kinos, um dem italienischen Film neue Perspektiven zu erschliessen.
76. Filmfestival Cannes
Preisverleihung
Unter der Leitung des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund hat die Jury des 76. Filmfestivals von Cannes – der unter anderem die Regisseurinnen Julia Ducourneau und Maryam Touzani sowie die Schauspieler Denis Ménochet und Paul Dano angehörten – die folgenden Preise verliehen:
Goldene Palme: «Anatomie d’une chute» von Justine Triet
Grosser Preis: «The Zone of Interest» von Jonathan Glazer
Regiepreis: Hung Tran Anh für «La passion de Dodin Bouffant»
Jurypreis: «Les feuilles mortes» von Aki Kaurismäki
Drehbuchpreis: Yuji Sakamoto für «Monster» von Hirokazu Kore-Eda
Weiblicher Darstellerpreis: Merve Dizdar für «Les herbes sèches» von Nuri Bilge Ceylan
Männlicher Darstellerpreis: Koji Yakusho für «Perfect Days» von Wim Wenders
Caméra d’Or (für die beste Erstinszenierung): «Inside the Yellow Cocoon Shell» von Thien An Pham
Die Ehrenpalme: Michael Douglas und Harrison Ford