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Ägypten

Das ägyptische Parlament ist "verfassungswidrig"

15. Juni 2012
Arnold Hottinger
Unmittelbar vor der am Wochenende bevorstehenden Wahl des ägyptischen Präsidenten kommt der gesamte Übergang zur Demokratie, an dem das Land seit anderthalb Jahren arbeitet, von vielen Seiten unter Bedrohung. Wird eine Art von Demokratie vielleicht noch zu retten sein?

Der Zeitpunkt, in dem das ägyptische Demokratieprojekt ins Schlingern gerät ist kein Zufall. Das demokratische Gebäude, mühsam errichtet während den letzten anderthalb Jahren, war unvollständig. Die Präsidentenwahl wäre sein Schlussstein geworden. Nach dieser Wahl, wenn sie ungestört hätte ablaufen können, wäre das Gebäude komplett gewesen. Es hätte beginnen können, regulär zu funktionieren.

Eine halbfertige, halbe Demokratie?

Die Militärregierung hatte versprochen, von der Macht, die sie seit dem 11. Februar 2011 ausübte, zurückzutreten, nachdem ein Präsident gewählt worden sei. Doch diese Präsidentenwahl steht nun unter dem Schatten von so vielen Fragwürdigkeiten, dass das Demokratieprojekt droht, nie wirklich abgeschlossen zu werden, sondern eher als ein unvollendeter Bau übrig zu bleiben - eine Bauruine, die den heute herrschenden Mächten erlauben könnte, weiter als der wirkliche Pfeiler der Macht zu dienen.

Die Herausforderungen kommen vonseiten der Militärs, vonseiten der Richter, vonseiten der von den Militärs eingesetzten Regierung, die ebenfalls nach der Präsidentenwahl zurücktreten sollte, sowie von der ebenfalls von den Militärs eingesetzten und mit unangreifbaren Vollmachten ausgestatteten Wahlkommission.

Doch es sind auch die Politiker, die einander den Weg versperren und hinter ihnen eine immer schärfer getrennte Gesellschaft, in der die Islamisten, die Säkularisten, die Befürworter von Ruhe und Ordnung und die Revolutionsgruppen einander entgegenstehen. Sie sind fast alle für Demokratie. Doch sie vermochten nicht zur Zusammenarbeit zu finden, um den unfertigen Demokratie-Entwurf unter Dach zu bringen.

Wahl? Keine Wahl ? Widerrufbare Wahlen?

Die Gerichte haben am Donnerstag entschieden, dass Ahmed Schafik Kandidat für die Präsidentenwahl bleiben kann, aber dass das Parlament nicht verfassungsgemäss gewählt worden sei. Ob es ganz aufgelöst wird oder nur stillgelegt, bis das Dritttel der Abgeordneten, die nach diesem Urteil im Widerspruch zur Verfassung gewählt wurden, neu gewählt werden können, ist zur Zeit unklar. Jedenfalls ist das Parlament zunächst ausgeschaltet.

"Verfassungsgemäss" muss man fast in Anführungszeichen stehen, weil Ägypten keine Verfassung hat und wahrscheinlich auch sobald keine bekommen wird. Es sei denn, die Militärs schreiben sie. Was zur Zeit als Verfassungsersatz dient, ist eine von den Militärs erlassene und vom Volk plebiszitierte Überarbeitung der letzten Verfassung Mubaraks, die später von den Militärs stillschweigend hier und dort umgeschrieben wurde.

Der Streit um die Verfassungsversammlung

Das gewählte Parlament sollte nach dem geltenden Verfassungsersatz eine 100-köpfige Verfassungsversammlung wählen, welche die neue Verfassung zu schreiben hätte. Eine erste solche Versammlung wurde im März gewählt. Entsprechend den Mehrheitsverhältnissen im Parlament wurden zahlreiche den islamistischen Strömungen nahestehende Mitglieder in sie gewählt. Die säkularen und linken Parteien protestierten und zogen ihre - ihrer Ansicht nach allzu wenigen - Vertreter aus der Versammlung zurück. Das oberste administrative Gericht, "state council" genannt, gab den Protestierenden recht. Es löste am 10. April die erste Verfassungsversammlung auf, weil sie "nicht repräsentativ" sei.

Eine zweite Versammlung wurde dieser Tage gewählt, nachdem die Militärs gedroht hatten, sie würden selbst die Mitglieder ernennen, wenn die Politiker dies nicht fertigbrächten. Die Wahl wurde aufgrund einer von allen Parteien ausgehandelten Formel vorgenommen, die vorschrieb, wie viele Vertreter aus welchen sozialen Ständen und Schichten zu wählen seien.

Ein zweites Scheitern

Doch schon während der Wahl der neuen Versammlung verliessen zahlreiche Abgeordnete der nicht-islamistischen Parteien das Parlament. Nach der Wahl erklärten ihre Parteien das Wahlresultat erneut als "nicht repräsentativ". Der Streit hatte sich daran entzündet, dass die ausgehandelte Formel unterschiedlich interpretiert wurde. Die Islamisten hatten akzeptiert, dass die Zahl ihrer Vertreter limitiert wird. Doch die Säkularisten waren der Ansicht, diese Beschränkung gelte nicht nur für die Angehörigen der beiden islamistischen Parteien, sondern für alle "islamisch Gesinnten", auch jene ausserhalb der beiden Parteien. Der Streit droht die zweite Verfassungsversammlung ebenfalls funktionsunfähig zu machen. Diese Blockade ist der Unversöhnlichkeit der Politiker zuzuschreiben.

Doch das Urteil über das Wahlgesetz könnte die zweite Verfassungsversammlung ohnehin zunichte machen. Sie wurde ja von einem »unkonstitutionellen« Parlament ausgewählt.

Ausnahmezustand in Uniform

Die Militärs haben ihrerseits ebenfalls eine Mine gezündet. Sie hatten zugelassen, dass der Ausnahmezustand, unter dem Ägypten seit drei Jahrzehnten regiert wurde, am vergangenen 31. März endgültig aufgehoben wurde. Doch am 14. Juni hat der Justizminister der von ihnen ernannten und kurz vor ihrem Rücktritt stehenden Regierung ein Dekret erlassen, das es der Militärpolizei erlaubt, Zivilisten zu verhaften, die einer langen Liste von locker formulierten Vergehen beschuldigt werden. Darunter sind : »Verbrechen und Vergehen, die der Regierung schaden; Besitz von Explosivstoffen; Widerstand gegen die Befehle der Autoritäten; Zerstörung öffentlichen Besitzes oder öffentlicher Monumente; Störung des Verkehrs; Streiks in Institutionen, die der Öffentlichkeit dienen oder Behinderung des Rechtes auf Arbeit; Intimidation und Brutalität.«

Diese Anordnung soll gültig bleiben - nicht etwa bis der neue Präsident gewählt sein wird, sondern bis eine neue Verfassung zustande kommt.

Exorbitante Vollmachten für die Militärpolizei

Man sieht, der Ausnahmezustand ist unter neuem Namen zurückgekommen. Es handelt sich um ein Instrument, das der Militärpolizei erlaubt, gegen Strassenproteste sehr direkt vorzugehen. Wie die Dinge in Ägypten stehen, müssen von der Militärpolizei Festgenommene mit Folterung rechnen, sodann mit Verurteilungen durch Militärgerichte zu langjährigen Gefängnisstrafen, oft auf Grund der erpressten Geständnisse.

Neue Unruhen erwartet

Dass die Generäle sich nun derartige Vollmachten zuschreiben lassen, zeigt zweierlei: Sie erwarten neue Strassenproteste und sie gedenken, diese mit allen Mitteln niederzuhalten.

Warum Strassenproteste zu erwarten sind, hängt zunächst mit den bevorstehenden Wahlen zusammen.Sie sind bereits vor dem Wahlgang umstritten und werden es nach ihm, wie immer er ausgeht, noch mehr sein. Gerüchte gehen um, dass im vorausgegangenen ersten Wahlgang der Präsidentenwahl Soldaten und Polizisten mitgestimmt hätten, was in Ägypten illegal sei und vermutlich dem Kandidaten der Militärs, Ahmed Schafik, genützt habe.

Geheim gehaltene Wählerlisten

Aus diesem Grund wollen die Muslimbrüder nun vor der Stichwahl Einblick in die Wählerlisten nehmen. Doch die Wahlkommission verweigert dies. Sie sagt, es gäbe keine legale Vorschrift, die der Partei der Muslimbrüder erlaube, die Wählerlisten einzusehen. Gegen die Entscheide der Wahlkommission kann kein Rekurs an die Gerichte erfolgen. Die Militärs setzten dies durch, als die Wahlkommission ernannt wurde. Also, wenn nun gewählt wird, weiss niemand - ausser vielleicht die Wahlkommission - welche Namen sich auf den Listen befinden.

Die Anhänger Mohammed Mursis, des Kandidaten der Brüder, haben erklärt, sie wollten vor dem Sitz der Wahlkommission demonstrieren, bis sie die Wahllisten einsehen könnten.

Im Augenblick, unmittelbar vor der Stichwahl, sieht es so aus, als ob diese nicht wie vorgesehen den Abschluss der Übergangsperiode zu bringen vermöchte. Viel eher stehen neue Improvisationen und Provisorien bevor, die natürlich den Militärkommandanten erlauben würden, ihrerseits weiterhin als die wahren Träger der Staatsmacht zu wirken. Um eventuelle Widerstände niederzuschlagen, haben sie sich soeben ein wirksames Instrument geschaffen.

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