
Er ist für Hunderttausende Tote verantwortlich und stürzte Millionen ins Elend. Vor 80 Jahren wurde er zusammen mit seiner Geliebten an eine Wand gestellt und erschossen.
Es ist ein warmer Frühlingstag Ende April. Im Städtchen Salò am Gardasee flanieren Einheimische und Touristen auf der Uferpromenade und geniessen die Frühlingssonne. Einige trinken in den Cafés und Bars Prosecco, Enten quatschen, Kinder spielen – ein Idyll.
Kaum jemand weiss heute, was sich hier in den letzten Kriegsjahren abgespielt hatte. Die Touristen sind ahnungslos und die meisten Einheimischen verdrängen es.
Hier am Westufer des Gardasees hatten Benito Mussolini und seine Faschisten – mit Hitlers Hilfe – ihr letztes Bollwerk aufgebaut.
Nur einige Plakatsäulen weisen heute auf eine Ausstellung im Museum des Städtchens hin. «Der letzte Faschismus, 1943–1945, die «Italienische Sozialrepublik» (Repubblica Sociale Italiana). Kurz: «Republik Salò» genannt.
Organisiert wurde diese Ausstellung vom neuen, von einer Mitte-links-Fraktion dominierten Gemeinderat des Städtchens. Seit jeher wird Italien vorgeworfen, seine düstere Vergangenheit nicht aufgearbeitet zu haben. Unter anderem mit dieser Ausstellung will die Mitte-links-Koalition endlich Licht in die schrecklichen Kriegsjahre bringen.
Und diese Koalition annullierte endlich auch Mussolinis Ehrenbürgerschaft von Salò. Die regierenden Mitte-rechts-Parteien hatten es mehrmals abgelehnt, ihm die Ehrenbürgerschaft zu entziehen. Doch als dann in Salò im letzten Jahr eine Mitte-links-Koalition an die Macht kam, wurde wieder abgestimmt. Zwölf Mitglieder des Gemeinderates votierten für die Annullierung der Ehrenbürgerschaft, drei dagegen und einer enthielt sich der Stimme.
1943: Mussolini wird festgenommen
Als 1943 die Alliierten immer weiter von Sizilien her Richtung Rom vorrückten, wurde Mussolini vom italienischen König Vittorio Emanuele III. gestürzt – auf Druck der Monarchisten und oppositionellen Faschisten. Der «Duce del Fascismo», wie er sich nannte, wurde in einem Hotel auf dem Gran Sasso in den Abruzzen unter Hausarrest gestellt. Dort befreiten ihn die Deutschen in einer waghalsigen Blitzaktion am 12. September 1943 und flogen ihn zu Hitler. Dieser installierte im Oktober 1943 in Norditalien eine faschistische Rumpfrepublik mit Mussolini an der Spitze: «Die Italienische Sozialrepublik». Hauptstadt des von der deutschen Besatzungsmacht dominierten Marionettenstaates war Salò, das zwischen Riva del Garda und Sirmione liegt.
In Salò befanden sich die verschiedenen Ministerien. Mussolini selbst residierte in der Ende des 19. Jahrhunderts gebauten pompösen Villa Feltrinelli nördlich von Gargnano. Sie liegt direkt am See und ist von einem herrlichen Park umgeben. Gargnano liegt 17 Kilometer nördlich von Salò. Hier empfing der Duce die Minister, die aus Salò herkamen und deutsche Emissäre, die von Hitler geschickt wurden.
Doch sehr glücklich war Mussolini hier nicht, denn die Alliierten rückten immer weiter nach Norden vor – Richtung Repubblica Sociale Italiana.
Im April 1945 kam es in der Po-Ebene zu immer grösseren bewaffneten Aufständen gegen die deutschen Besatzungstruppen. Koordiniert wurden die Revolten von sozialistischen und kommunistischen Partisanen des «Nationalen Befreiungskomitees» (Comitato di Liberazione Nazionale). Die Aufständischen arbeiteten oft eng mit den anrückenden alliierten Truppen zusammen. Genua und Mailand wurden von der Resistenza befreit. Für die deutschen Besatzer und Mussolini wurde die Lage hoffnungslos.
Am 24. April überschritten die amerikanischen und britischen Truppen den Po. Der faschistische Staatsapparat geriet in Panik. Das Ende war nahe. Mussolini erklärte sich nun zu einer «geordneten Kapitulation» unter Rettung seiner eigenen Haut bereit. Doch niemand ging auf das Angebot ein. Der Duce fühlte sich verraten – von eigenen Leuten und von den Deutschen.
Flucht
Am Abend des 25. April 1945 verliess er die Villa Feltrinelli bei Salò – zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci und einigen seiner letzten Getreuen. Im Gepäck hatte er zahlreiche Geheimdokumente, die inzwischen verschollen sind.
Wohin ging die Flucht? Die Partisanen kontrollierten immer mehr die Strassen nach Süden, Osten und Westen. Also blieb nur der Norden. Es ist eine «kopf- und ziellose Flucht eines verzweifelten Mannes», schreibt der Historiker Hans Woller (nicht zu verwechseln mit unserem Frankreich-Korrespondenten Hans Woller). Mussolini stülpt sich einen deutschen Stahlhelm über, zieht einen deutschen Militärmantel an und schliesst sich einer Nachrichteneinheit der deutschen Luftwaffe an, die dabei ist, Italien zu verlassen.
Ziel: Die Schweiz?
Wohin er flüchten wollte, ist nicht erwiesen. Mehrere Historiker sagen, sein Ziel sei die Schweiz gewesen. Man stelle sich vor, Mussolini wäre an die Schweizer Grenze im Kanton Graubünden oder im Tessin gelangt und hätte um politisches Asyl gebeten. Wie hätte sich die Schweiz verhalten? Zum Glück blieb ihr dieser Entscheid erspart.
Welche Route er auf seiner Flucht eingeschlagen hat, ist umstritten. Sicher ist jedoch, dass er an den Comersee gelangte. War er auf dem Weg nach Chiavenna und wollte über den Splügen- oder den Maloja-Pass in die Schweiz gelangen – oder via Veltlin ins Puschlav? Weit kam er nicht mehr.
An die Wand gestellt
An einer Strassensperre zwischen Musso und Dongo am Comersee wurde seine Fahrzeugkolonne von schwer bewaffneten kommunistischen Partisanen angehalten und kontrolliert. Schnell wurden Mussolini und die 29 Jahre jüngere Clara Petacci erkannt. Die Nachricht verbreitete sich rasend schnell.
Die 52. Garibaldi-Brigade versteckt Mussolini und Petacci zunächst in einem Bauernhof im nahen Dorf Giulino di Mezzagra. Aus Mailand reist ein Erschiessungskomitee an. Die Partisanen bringen die beiden vor das Dorf. «Oberst Valerio», der in Wirklichkeit Walter Audisio heisst und im Spanischen Bürgerkrieg gedient hatte, stellt die Festgenommenen an eine Gartenmauer und erschiesst sie mit einer französischen Maschinenpistole MAS-38.
Anschliessend kehrt Audisio nach Dongo zurück und liquidiert auch die letzte Entourage des Diktators. Man schreibt den 28. April 1945.
Alle Leichen werden auf einen Möbelwagen gepackt und in der Nacht nach Mailand gebracht. Dort, auf der Piazzale Loreto, findet am nächsten Morgen, einem Sonntag, ein grausiges und bestialisches Schauspiel statt. Die Leichen werden auf den Platz gekippt. Tausende strömen herbei; sie hatten am Radio von Mussolinis Tod erfahren. Die Leiche des Diktators wird von Schaulustigen bespuckt und getreten. Frauen und Männer urinieren auf den leblosen Körper. Ein Mann steckt eine tote Maus in Mussolinis Mund. Eine Frau schiesst 25 Mal auf die Leiche: fünf Schüsse für jedes ihrer fünf Kinder, die sie im Krieg verloren hat.
Dann werden Mussolini, Clara Petacci und drei weitere Faschisten unter Hohngeschrei an einer Tankstelle kopfüber hochgezogen und mit Müll und Steinen beworfen.
Doch nicht genug: Mussolini wird auf dem Mailänder Friedhof «Cimitero milanese di Musocco» im Grab Nummer 384 anonym begraben. Lange allerdings liegt er nicht dort. In der Nacht vom Ostermontag, dem 22. auf den 23. April 1946, schleicht sich eine Gruppe Faschisten, angeführt von Domenico Leccisi, auf den Friedhof. Sie graben Mussolinis Leiche aus und lassen im Sarg einen Stiefel und ein faschistisches Pamphlet zurück. Darin heisst es:
«Endlich, oh Duce, haben wir dich bei uns. Wir werden dich mit Rosen umgeben, aber das Parfüm deiner Tugenden wird das der Rosen übertreffen.»
In einer Hütte versteckt
Die Leiche wird in einen Gummisack gepackt und in eine Kiste gequetscht. Die Holzkiste ist nur 90 Zentimeter lang, 60 Zentimeter breit und 40 Zentimeter hoch – für den 1,69 Meter grossen Toten eine enge Bleibe.
Die Kiste wird über die steile, damals schlecht ausgebaute Splügenpass-Strasse ins Veltliner Dorf Madesimo transportiert. Hier, unweit der Grenze zum Kanton Graubünden, wird Mussolini in einer Hütte, die einem der Leichendiebe gehört, versteckt. Nachdem einer der Räuber festgenommen worden war, fürchtet Leccisi, das Versteck könnte preisgegeben werden.
In der Kapelle des Heiligen Matthäus
In einer überstürzten Aktion führt er die Leiche am 30. Mai zurück nach Mailand. Er bringt sie ins Convento di Sant’Angelo, mit dem er vorher Kontakt aufgenommen hatte und das enge Beziehungen zum Faschismus hatte. Hier im Franziskanerkonvent wird die Kiste deponiert, und zwar in einer Kapelle, die dem heiligen Matthäus geweiht ist. Die Polizei hat einen Verdacht und befragt einige der Mönche. Leccisi wird festgenommen, doch er gibt das Geheimnis nicht preis.
Doch die Mönche des Klosters Sant’Angelo wollen nicht, dass man die Leiche bei ihnen findet. Deshalb transportieren sie die Kiste in die Certosa di Pavia. Die Kartause liegt südlich von Mailand. Und nun informieren die Franziskaner von Sant’Angelo den Mailänder Polizeipräsidenten Vincenzo Agnesina.
Pilgerort für Rechtsextreme
Erst im September 1957 wird Mussolini in Anwesenheit seiner Witwe Rachele in der Familiengruft in Predappio bei Forlì in der Emilia-Romagna begraben. Dies mit Unterstützung des christdemokratischen italienischen Ministerpräsidenten Adone Zoli. Er erkaufte sich dadurch die parlamentarische Unterstützung der neofaschistischen MSI-Partei (Movimento Sociale Italiano) – einer Vorgängerpartei der postfaschistischen «Fratelli d’Italia» von Giorgia Meloni. Predappio, wo Mussolini noch immer ruht, wurde zu einem Pilgerort für Rechtsextreme. Jährlich wird das Grab von mehreren tausend versprengten Faschisten, Neofaschisten oder Postfaschisten aufgesucht.
Mit Material von
Journal 21, Heiner Hug: Odyssee einer Leiche
Journal 21, Heiner Hug: Ehrenbürger a.D.