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Gastkommentar

Carl Bossard: Jugendliche brauchen Ordnungsprinzipien

3. Dezember 2010
Gastkommentar
Jugendliche stehen heute einer Vielzahl von Optionen gegenüber. Sie müssen darum viel mehr auswählen - und sie müssen entscheiden, sagte am 25. November Hans-Werner Reinfried im Gespräch mit Stephan Wehowsky. Doch je freier wir über Informationen verfügen, desto nötiger werden Strukturen. Gedanken zum Interview mit Hans-Werner Reinfried. (Link zum Reinfried-Interview siehe unten)

Carl Bossard
Carl Bossard

Die Schule ist kein Internet-Café

Wir leben im Netzzeitalter; verführerisch leicht sind Informationen zu haben, so viel man will. Ein Dauerregen. Legionen von Daten, Hekatomben von News warten im Info-Weltall. Alles ist in rigoroser Gleichzeitigkeit vorhanden, alles im Datendschungel zu jagen, alles simultan vernetzt. Die Welt als scheinhandlicher Datenberg. Ein Mausklick am Computerfenster genügt – und der Blick ins Pluriversum öffnet sich. Google, Yahoo und Alta Vista führen überallhin.

Doch genügt das? Führt das zu Erkenntnis und Verstehen? Und was heisst das für die Schule?

Was man schwarz auf weiss besitzt …

Wer im Unterricht Vorträge und Seminarbeiträge, Diskurse und Foren vorbereiten lässt, kennt die Quellen und weiss, wo Schülerinnen und Schüler suchen: Wikipedia dominiert und regiert die Welt des Wissens. Rund Dreiviertel der Schülerinnen und Schüler beziehen nach meiner Erkenntnis ihre Informationen aus diesem populären Online-Nachschlagewerk.

„Woher hast du denn die Information?“ – „Heruntergeladen vom Internet!“, meinte ein Gymnasiast. „Und dann?“ „Dann? - Ja dann hab’ ichs!“, fügte er bei. Wirklich? Goethes Faust lässt grüssen: „Denn, was man schwarz auf weiss besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“, heisst es im Gespräch zwischen Mephistopheles und dem Schüler. Kopiert? Nein! Selber geschrieben, verkündet der damalige Scholar nicht ohne Stolz.

Eigenaktivität, selber erarbeiten. Jede Einsicht von Bedeutung will gedanklich erarbeitet sein. Das erspart uns – auch im Informationszeitalter – keine Technik. Nichts ergibt sich im gelebten Leben von selbst. Eben. Von der utopischen Einfachheit dessen, was Goethe „das alte Wahre“ nennt. „Erwirb es, um es zu besitzen“, sagt Faust zu seinem Famulus Wagner, der alles wissen und erkennen möcht’. Zwar banal verkürzt, doch nach wie vor elementar. Erst damit erschliessen wir uns die Wirklichkeit – und lernen nicht bloss, dem Wirklichen spielend zu entkommen.

Selber erarbeiten. Ja schon; doch: Kann denn das die Schule noch erbringen – in einer Zeit der übermässigen Datenmenge, der mäandrierenden Informationsflut, des medialen „Overkills“? Im Pluriversum des Wissens die jungen Menschen zu Verstehenden machen – in einer Welt vor dem Bildschirm, wo doch alles so verführerisch leicht zu haben ist. Die Schule und ihr Auftrag als radikale Antithese zur Wirklichkeit?

Überbrückungsarbeit – die Schule als kulturelle Gegenwelt

Was Hartmut von Hentig von der Schule fordert, nämlich Mut zum Antithetischen und Gegenläufigen, nimmt Thomas Ziehe auf. Der Pädagogik-Professor aus Hannover spricht von Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem Bildungsauftrag der Schule. Darin bestünde eine der wesentlichen Aufgaben heutiger Lehrerinnen und Lehrer. Sich im Unterricht pädagogisch-didaktisch dominant an den subjektiven Eigenwelten der Schülerinnen und Schüler zu orientieren könne nicht in die Zukunft führen – und darum dürfe die unmittelbare Relevanz des Gelernten im Alltag nicht der alleinige Fokus sein. Im Gegenteil: Schule habe kulturelle Gegenwelten aufzuzeigen und an ihren Inhalten Lern- und Denkgewohnheiten zu schulen. Ziehe spricht von wohldosierten Fremdheiten.

Ganz besonders gilt dies für die Welt der Wörter. „20 Minuten“, das ist in der Tendenz die heutige Lesedauer. Fast-Food-Information, in kleinen Häppchen präsentiert und schnell konsumiert. Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nichtalltäglichen Sprache, des Diskurses, ist für manche Schüler eine unvertraute Gegend. Formale Sprache und Diskursivität werden daher als fremd erlebt; neue Sprachbarrieren bauen sich auf. Das Lesen und Sinnverstehen nichtalltäglicher Texte werden zur anstrengenden Arbeit; der Appell zu differenzierterer Versprachlichung bleibt eine subjektive Zumutung. Für die Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dieses Unbehagen einen spürbaren Zuwachs an Engagement.

Internet und kritisches Denken

Die Schule kann und soll das Internet als immense Sekundärmaschine nutzen. Die gigantischen Netzwerke liefern Daten, Abertausende, Hunderttausende. Doch unser Urteil, unser Denken, das wächst nur ausserhalb der Netze heran. Darum ist Überbrückungsarbeit gefragt. Hier muss die Schule nicht hecheln, hier kann sie verweilen und sich in der Aufgabe treu bleiben: Es gilt, Fakten und Positionen zu interpretieren und sie an normativen Kriterien wie Recht, Freiheit und Gerechtigkeit zu spiegeln. Es ist der alte Impetus der Aufklärung; es ist die lineare Logik, die auf Einheit von Idee und Wirklichkeit dringt.

Die Informationsquellen ändern, der Auftrag bleibt: Die Schule soll lehren, wie man klare Kriterien herausarbeitet, Strukturen aufbaut, begriffliche Raster findet, präzise Fragen stellt und den angeborenen Zweifel kultiviert. Es ist „das alte Wahre“ von Goethe. Im Diskurs – denkend, replizierend, argumentierend – erwirbt sich der junge Mensch auch jene intellektuellen Fähigkeiten, auf die es heute zwingend ankommt: kreative Intelligenz, skeptische Kompetenz, logische Kombination. Das sind unverzichtbare Qualitäten, ohne die man im Datenmeer des Internets ertrinkt und vom Modernisierungstempo überfahren wird.

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