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Kunst am Bau in Winterthur

Beton und Zärtlichkeit

9. Juli 2021
Niklaus Oberholzer
Judith Albert, Kunst am Bau in der Fachhochschule für Gesundheitsberufe Winterthur: Das Aufreissen der Betonhaut legt die in ihren Farben unterschiedlichen Steine frei. (Bild: Gery Hofer)
Judith Albert, Kunst am Bau in der Fachhochschule für Gesundheitsberufe Winterthur: Das Aufreissen der Betonhaut legt die in ihren Farben unterschiedlichen Steine frei. (Bild: Gery Hofer)
Kunst im neuen Gebäude der Fachhochschule für Gesundheitsberufe: Mit grossen, in Beton gemeisselten Zeichnungen prägt Judith Albert die Atmosphäre.

Sie sass unter den Studierenden im Unterricht und zeichnete – nicht die angehenden Hebammen oder Physio- und Ergotherapeuten und auch nicht, was da an Anschauungsmaterial an die Leinwand projiziert wurde: Die Künstlerin Judith Albert bildete, wenn sie mit der Hand den Bleistift über das Blatt Papier führte, nicht ab, was sie sah. Zeichnend liess sie ihr Denken in der Atmosphäre des Unterrichts über Organismen, ihre Entwicklung, ihre Krankheiten und Heilmöglichkeiten Bild werden. 

Das war Teil ihres Konzeptes, mit dem sie sich am eingeladenen Wettbewerb für die künstlerische Gestaltung der Abteilung Gesundheit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Sulzer Areal in Winterthur beteiligte. Die Konkurrenz mit fünf Beteiligten wurde 2019 abgeschlossen. Judith Albert erhielt die Ausführung zugesprochen und beendete kürzlich ihre Arbeit. „Basics“, so der Titel, greift aus ins ganze Innere des Gebäudes. Unter den zahllosen während der Vorbereitung entstandenen Zeichnungen wählte sie elf aus, projizierte sie, ins Riesige vergrössert, an die Wände der gemeinschaftlich genutzten Innenräume des Gebäudes und liess sie in die grauen Betonwände einmeisseln.

Atrium als Kleinstadt

Das Gebäude im Sulzer-Areal ist das Werk der Zürcher „pool Architekten“. Es trägt den Namen Adeline-Favre-Haus. So hiess die aus dem Val d’Anniviers im Wallis stammende Hebamme, die von 1908 bis 1983 lebte, rund 8000 Kindern auf die Welt half und das Hebammenwesen ihrer Zeit als Pionierin revolutionierte.

Rund 2000 Studierende und 300 Angestellte gehen im neuen Gebäude am langgestreckten Katharina-Sulzer-Platz ein und aus. Gelbgebrannter Backstein prägt das Äussere, wie es für das Industrieareal typisch ist. Im Innern herrscht grauer Beton vor. Die Architekten gestalteten es als Atrium mit auf allen Geschossen umlaufenden Galerien, von denen aus man die Schulungsräume betritt. Dieses Atrium hat mit seinen über Treppen miteinander verbundenen Einbauten auf verschiedenem Niveau den Charakter einer Kleinstadt mit unterschiedlich grossen Einzelvolumen und kleinen Plätzen und Wegen. 

Blick ins Atrium des Adeline-Favre-Hauses in Winterthur: An elf auf die ganzen Gemeinschafsräume verteilten Stellen meisselte Judith Albert Zeichnungen in die Betonwand. (Bild: Christian Schwager)
Blick ins Atrium des Adeline-Favre-Hauses in Winterthur: An elf auf die ganzen Gemeinschafsräume verteilten Stellen meisselte Judith Albert Zeichnungen in die Betonwand. (Bild: Christian Schwager)

Die Architekten bekannten sich klar zum Beton-Grau, das auch für Monumentalität und Monotonie steht. Sie sorgten aber auch für eine entspannende Auflockerung: Die dezente Farbgebung der Linoleumböden wirkt wärmend. Buntes Outdoor-Mobiliar lässt an sommerliche Kleinstadt-Stimmung denken und gibt den Korridoren und Plätzen im Innern des Gebäudes Leben und Spontaneität. Auch die zahlreichen Studierenden, die hier zirkulieren, in Gruppen frei zusammensitzen oder arbeiten, bringen farbiges Leben ins Grau. 

Zeichnen mit feinem Stift

Judith Albert verzichtet in ihrem Kunst-am-Bau-Konzept bewusst auf Farbe, akzeptiert das Grau und setzt einen eigenen Akzent – nicht entgegen, sondern mit dem Beton und seinem Materialcharakter. 

Ausgangspunkt ihres Konzepts sind die erwähnten Zeichnungen, die in engem Kontakt mit dem Unterricht der Physiotherapeuten oder Hebammen und Pflegenden entstanden sind. Etwa 200 davon sind in der Publikation zum Kunst-am-Bau-Projekt „Basics“ ungefähr in Originalgrösse abgebildet. Ihre Dimension ergibt sich aus der Bewegung von Handgelenk und Hand, die den Bleistift führt. Dabei geht es nicht um das Ausbrechen von Emotionen, wie häufig bei Zeichnungen, oder um unkontrollierte Spontaneität, sondern um Sensibilität: In zärtlicher Geste berührt der Bleistift das Papier, ohne dessen Haut zu ritzen.

So entstehen organische, wachsende, knospende Formen. Hier wird eine Hand sichtbar, dort ein Einzeller, eine Amöbe vielleicht, eine Schlinge, ein System unterirdischer Gänge, Maserungen von Holz, Adern oder weich fliessende Bänder. Vielschichtige Assoziationen sind möglich. Manche Zeichnungen sind mit knappen Texten versehen. Vielleicht schnappte Judith Albert Lehrer-Aussagen auf und notierte sie: „Nicht vom Schlimmsten ausgehen“ zum Beispiel, oder „Richtige Instruktion“ und „Zielwerte sind nicht in Stein gemeisselt“ oder „Vielleicht ändert sich das ja noch“ und „Patientensprache“.

In Beton gemeisselt

„Human Touch“ war, der Zweckbestimmung dieses Gebäudes entsprechend, das Motto des Gestaltungswettbewerbs. Berührung ist ein ganz wesentliches Element in der Ausbildung zu den Gesundheitsberufen, um die es im Adeline-Favre-Haus geht. Judith Albert hat nicht nach Illustrationen dieses Mottos gesucht. Das Zeichnen ist selber Berührung: Die Künstlerin berührte mit dem Stift das Papier und setzt die Ergebnisse dieser Berührung auf die Betonwände um, übertragen in die grosse Dimension, wie sie sich aus der Monumentalität der Architektur des Gebäudes ergibt. An der Betonfläche führte sie aber nicht mehr den sanften Bleistift. Hier ist der harte Eingriff in die Betonoberfläche gefragt. Der Steinbildhauer Tobias Hotz führte aus, was Judith Albert ihm vorgab. 

Was Judith Albert in ihren Zeichnungen notierte, gewinnt an der Wand riesige Dimensionen. (Bild: Gery Hofer)
Was Judith Albert in ihren Zeichnungen notierte, gewinnt an der Wand riesige Dimensionen. (Bild: Gery Hofer)

Ein Effekt des Arbeitsvorgangs, der sich vom Zeichnen auf Papier doch wesentlich unterscheidet, ist: Was in den Beton eingemeisselt ist, wirkt dunkler. Die kleinen Steine im Beton bilden nicht nur eine Feinstruktur, die sich von der Beton-Oberfläche abhebt; es ergeben sich auch feine Farbnuancen, die sich vielleicht erst nach genauem Hinsehen erschliessen.

Das ist auch ein Charakteristikum der ganzen Arbeit: Die auf die Wände übertragenen Zeichnungen drängen sich nicht auf. Sie sind eher stille Begleiter, die im Beiläufigen bleiben. Sie werden eher unterschwellig wahrgenommen werden, auch wenn sie für die ganze Atmosphäre des Hauses wichtig sind. Ob Judith Albert die Aussage „So wenig Intervention wie möglich“ – wohl eine Dozenten-Empfehlung, wie sie Judith gehört und auf einer ihrer Zeichnungen notiert hat – auch zum eigenen Motto ihrer Arbeit gewählt hat? Fast könnte es so scheinen.

Die Standorte der elf in den Beton eingemeisselten Zeichnungen sind so gewählt, dass sie immer wieder neu ins Blickfeld geraten und man sie aus stets anderer Perspektive und in wechselnden Nachbarschaften wahrnimmt. Das komplexe Raumgefüge, welches das Auge in immer wieder andere Richtungen lenkt, bietet dazu die idealen Voraussetzungen.

Die Outdoor-Möbel bringen Farbe in die Architektur. Judith Alberts Wandgestaltungen setzen auf Beiläufigkeit. (Bild: Christian Schwager)
Die Outdoor-Möbel bringen Farbe in die Architektur. Judith Alberts Wandgestaltungen setzen auf Beiläufigkeit. (Bild: Christian Schwager)

In verschiedener Hinsicht verfolgt Judith Albert im Adeline-Favre-Haus mit „Basics“ ein besonderes Kunst-am-Bau-Konzept. Sie trägt nicht von aussen eine gestalterische Idee ins Gebäude hinein, sondern nähert sich ihrer Aufgabe behutsam und offen für das, was sie erwartet. Sie entwickelt ihr Konzept aus ihrem Erleben der architektonischen Gegebenheiten und fragt zugleich nach dem Erlebnishorizont der Benutzerinnen und Benutzer dieses Gebäudes.

Partizipativ ist die Gestaltung nicht in dem Sinne, dass die Künstlerin beispielsweise Benutzerinnen der Räume an der Arbeit aktiv teilhaben lässt oder direkt einbezieht. Sie greift aber in die Atmosphäre des Adeline-Favre-Hauses ein, die sich wesentlich definiert über die Menschen, die sich hier einfinden, und über ihrer Tätigkeit im Dienst der Gesundheit.

Die Künstlerin

Judith Albert, 1969 geboren, wuchs in Alpnach auf, besuchte die Luzerner Schule für Gestaltung und die Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich (ZHdK) lebt und arbeitet in Zürich. Bekannt wurde sie mit ihren technisch einfachen, aber sehr dichten und konzentrierten Videos, die sie „Haikus“ nannte. Sie realisierte zahlreiche Kunst-am-Bau-Projekte – so zum Beispiel Chorraumgestaltung und Altar in der Kirche St. Ursen in Solothurn, Glasmalereien in Kirchen in Montreux und in Neuchâtel sowie verschiedene Interventionen in Schulbauten, Mehrzweckhallen, Hotelzimmern usw. Viele Einzelausstellungen (zum Beispiel im Kunstmuseum Solothurn) und Beteiligungen an wichtigen Grupppenausstellungen (zum Beispiel Biennale Weiertal bei Winterthur, Arte Albigna und Palazzo Castelmur im Bergell, Kunstmuseum Luzern). Wichtig in ihrem Schaffen sind auch Aktionen im Öffentlichen Raum sowie Mitarbeit an Theater- und Musik-Projekten. 2016 erhielt Judith Albert den Innerschweizer Kulturpreis.

Seit 2006 ist Gery Hofer an Konzeption und Umsetzung der Arbeiten Judith Alberts beteiligt und hält bei Kunst-am-Bau-Projekten im Hintergrund die Fäden zusammen.

ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) Haus Adeline Favre, Katharina-Sulzer-Platz 6, Winterthur. 

In den Edizioni Periferia, Luzern, erschien eine zweiteilige Publikation zu Judith Alberts Arbeit „Basics“. Ein Band enthält die Zeichnungen der Künstlerin auf Papier, der andere informiert in Bildern und Texten von Linda Schädler und Nils Röller über die Arbeit im Adeline-Favre-Haus. 48 Franken.

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