
Natürlich war es der Stargast des Abends, Reinhold Messner, der am ersten Wochenende des diesjährigen Stummfilmfestivals im Filmpodium Zürich für einen restlos ausverkauften Saal gesorgt hatte. Aber auch an den andern Abenden war das Besucheraufkommen wiederholt hoch – nicht zuletzt dank den Solisten und Ensembles, die das Geschehen auf der Leinwand musikalisch akzentuierten. Der Schwerpunkt galt «Entfesselten Elementen».
Und so war denn in schöner Bandbreite zu besichtigen, wie Naturphänomene alles daransetzen, dem Filmpersonal die Arbeit zu erschweren. Zuallererst galt das Wüten der Elemente freilich dem Publikum, das sich am Eröffnungsabend durch Sturmwind und Regenfluten zu kämpfen hatte, um mitansehen zu können, um wieviel schlechter es der Heldin von «The Wind» (1928) ergeht. Den Part des Titelhelden übernahmen akustisch Günter Buchwald am Klavier, Bruno Spoerri, der, allmählich auf die neunzig zugehend, das Tenor- mittlerweile durch das handlichere Altsaxofon ersetzt, und am Schlagzeug Frank Bockius, ein inzwischen auch schon altbewährtes Trio. Wenn dann im Film der gefürchtete «Norther» als schwarze Wolke herannaht, das Vieh in Panik in Stampede ausbricht, das ganze Haus, eine schäbige Hütte, schwankt – dann ist einer jener Momente gekommen, in denen Buchwald jeweils vom Klavier zur Geige wechselt, die stets griffbereit auf dem Flügel liegt. Der es sich seinerseits nicht nehmen lässt, weiterhin mit Akkorden zu intervenieren, wenn die Handlung neben der bis zum Zerreissen gespannten Dehnung zugleich nach Ballung verlangt.
Lillian Gishs schreckgeweitete Augen
«Wind mögen die Leute einfach nicht», sagte Clarence Brown einst dem Stummfilmhistoriker Kevin Brownlow. Der Regisseur von einem halben Dutzend Filmen mit Greta Garbo hätte ursprünglich auch die Regie von «The Wind» übernehmen sollen. Er hatte bereits am Drehbuch mitgearbeitet, dann aber «kalte Füsse» bekommen. Für ihn übernahm Victor Seastrom – kein anderer als Victor Sjöström, der neben Mauritz Stiller bedeutendste schwedische Stummfilmregisseur (und weithin vergessen, als Ingmar Bergman ihn 1957 für die Hauptrolle in seinem Meisterwerk «Wilde Erdbeeren» besetzte). Bereits mit mehreren Filmen in Hollywood erfolgreich, hatte sich der Sohn einer früh verstorbenen Schauspielerin sein Handwerk an Provinztheatern und mit Dutzenden von Kurzfilmen angeeignet, ehe er international in Erscheinung trat.
Es wird nie klar, weshalb die Protagonisten der Geschichte überhaupt in dieser von unablässigem Sturmwind gepeitschten Wüstenei ausharren, in der sie angeblich Viehzucht betreiben. Der ahnungslosen Letty, von Virginia herübergekommen, wird jedenfalls von der eifersüchtigen und ostentativ mit dem Metzgermesser hantierenden Frau ihres kränkelnden Cousins bedeutet, schleunigst einen der dubiosen Gesellen, die sich mit ihren Schiessprügeln um sie balgen, zu erhören und zu verschwinden. Bereits die Anreise hatte ihr vor Augen geführt, dass hier draussen nicht nur mit den Sandmassen, die der Sturm da ans Zugfenster schaufelt, zu rechnen sein würde, sondern ebenso mit unangenehm aufdringlichen Männern. Und so machen denn Gish, der Star, der auch bei der Produktion mitreden konnte, und Sjöström, mit dem sie bereits in «The Scarlet Letter» (1926) zusammengearbeitet hatte, aus Lettys schreckgeweiteten Augen so etwas wie das visuelle Leitmotiv des Films.
Die beziehen sich freilich nur auf Letty, keineswegs auf die mit Filmen D. W. Griffiths zu Ruhm gekommene Lillian Gish, die der verstorbene Zürcher Stummfilmhistoriker Fritz Güttinger gern als «eiserne Jungfrau» bezeichnete (1993 ist sie 99-jährig gestorben). Für die Dreharbeiten in der Mojavewüste, wo die Aussenaufnahmen stattfanden (Erich von Stroheim hatte hier bereits im Hochsommer 1923 im Death Valley «Greed» gedreht), scheint eine eiserne Konstitution tatsächlich von Vorteil gewesen zu sein. Nicht nur, dass die Temperaturen während des Besuchs einer Reporterin nie unter 45 Grad fielen. Hinzu kamen die Windmaschinen, die unter höllischem Lärm die Sandstürme zu produzieren hatten, wobei der Sand, für bessere optische Effekte, noch mit Sägemehl versetzt war. Für zusätzliche Dramatik sorgten Rauchtöpfe, deren umherfliegende Glut Gish die Hände versengte. Wenigstens nicht die Augen, wie sie sagte. Denn während die Equipe mit Schutzbrillen und dick vermummt zugange war, musste sie völlig ungeschützt agieren.
Die Szenen aus dem «domain of the winds», den der erste Zwischentitel ankündigt, dem Herrschaftsbereich der Winde, beeindrucken auch heute noch. Der überall hereindringende Sand, der unablässige Wind legen die Basis zu einem Psychoterror, den die bald bloss gedankenlos rohen, bald bösartigen Männer zur Katastrophe verdichten. Umstritten ist allerdings, ob der Film, gemäss Brownlow, ursprünglich Letty zeigte, wie sie zuletzt, nachdem sie ihren Vergewaltiger in Notwehr erschossen und im Sand vergraben hat, wahnsinnig geworden hinaus in die Wüste irrt.
Dieses Ende habe den Verleihern dermassen missfallen, dass sie sich weigerten, den Film zu zeigen. Und so habe ein neuer Schluss hergemusst, in dem Letty nun ihrem einsichtig gewordenen Ehemann jubelnd um den Hals fällt, um gemeinsam mit ihm die Zukunft in der Einöde zu gestalten.
Erfüllung der Liebe in der Bergeinsamkeit
Wie Leben, als Paar, in der Einöde tatsächlich gelingen, wie man «Natur» als Funktion des Schönen wie des Schrecklichen zugleich ins Bild setzen kann, das hatte Sjöström bereits zehn Jahre vor «The Wind» mit «Berg-Ejvind och hans hustru» («Berg-Ejvind und seine Ehefrau», 1918) meisterhaft vorgeführt. Die Handlung, nach einer isländischen Vorlage, spielt im Island des 18. Jahrhunderts; wegen des Kriegs mussten die Dreharbeiten nach Lappland verlegt werden. Dort fanden Sjöström, der auch die Hauptrolle versah, und Julius Jaenzon, sein Kameramann, im heutigen Nuolja-Nationalpark bei Abisko die wildromantische Berglandschaft mit gähnenden Abgründen und reissenden Flüssen, die dem Film sein Gepräge und den Figuren den Raum zu einer Liebesbeziehung jenseits aller gesellschaftlichen Normen gibt.
Wohl ist die Vorgeschichte in der Inszenierung noch stark Bühnenkonventionen verpflichtet: wie Ejvind, aus dem Gefängnis entflohen, nachdem er dem mitleidlosen Pfarrer ein Schaf für seine hungernde Familie gestohlen hatte, als «Ausgestossener» auf dem Hof einer reichen Selfmadewoman Arbeit und deren Gefallen findet. Doch mit der erneuten Flucht vor den Häschern, auf die ihn nun Halla (Edith Erastoff, Sjöströms spätere Ehefrau) begleitet, geht die Befreiung auch von kinematografischen Fesseln einher. Und wenn das Ende, ebenfalls im Sturm, auch ein Kampf der nach der grauenvollen Opferung des Töchterchens erkalteten Gefühle ist, so wird das eisige Grab im Schnee das Paar wieder vereinen. Das Kimestad-Olsson-Jørgens-Trio hat mit scharfen Einwürfen der Trompete, dräuender E-Gitarre und subtil insistierendem Schlagzeug eine ausdrucksstarke Musik dazu gefunden.
Interessant ist, wie und dass die Kamera in den beiden ein Jahrzehnt auseinanderliegenden Filmen – ein Jahrzehnt immerhin geradezu epochaler filmischer Entwicklungen – mit weitgehend denselben Stilmitteln operiert.
Ihre äussere Statik, die auch im späteren Film kaum einmal – dann allerdings mit unmittelbarer Wirkung – einen Schwenk zulässt, fällt kaum auf, derart gekonnt ist die Dynamik der Abläufe innerhalb des Bilds inszeniert. Das hatte natürlich wesentlich mit den technischen Möglichkeiten des Aufnahmematerials zu tun. Wie sich über diese Beschränkungen hinweg Massenszenen mit Mensch und Tier in wilder Flucht darstellen liessen, zeigte auf beeindruckende Weise dann Henry Kings «The Winning of Barbara Worth» (1926).
Gary Coopers «erster» Film
Hier weht der Wind zu Beginn Damenunterwäsche an: trauriges Residuum der mit ihrem Planwagen in der Wüste umgekommenen Mutter, deren Töchterchen aber noch lebend gefunden wird und zur Hauptdarstellerin heranwachsen darf. In der Folge prallen Wüste und Wasser, Pioniergeist und ruchloser Kapitalismus aufeinander, wenn ein Dammbruch eine gewaltige Flutwelle (in raffiniertem Modell) auf eine neuerrichtete Stadt hereinbrechen lässt – alles mit sich reissend, nicht zuletzt den üblen Finanzhai aus New York. Auf seinem Einspänner versucht er vergeblich, den Wassermassen zu entkommen, wird im Schlammbad bis zur Unkenntlichkeit durchgemangelt und geht geläutert daraus hervor. Das ist halsbrecherisch inszeniert, aber selbst im rasanten Travelling der Kamera parallel zum Tohuwabohu der Massenflucht bleibt das Bild statisch und lässt so den Betrachter ausserhalb des Geschehens. Drehort war die Black Rock Desert in Nevada, durch die sich der pittoreske Haufen der Pioniere in seinen Pferdefuhrwerken kämpft, während der Ford-T erbärmlich im Sand strandet. Vor dem Hintergrund der «California Water Wars» wird hier die Geschichte eines Projekts der Urbarmachung von Wüste aufgerollt, die sich an der Nutzung des «untamed» Colorado River für die Besiedlung des Imperial Valley südöstlich von Los Angeles orientierte, Städtegründungen inklusive: das Barbara Worth des Titels.
Seinen filmhistorischen Stellenwert besitzt «The Winning of Barbara Worth» aber noch aus einem anderen Grund: Es ist der erste «richtige» Film Gary Coopers. Zuvor war der superbe Reiter aus Montana zwar schon in zwanzig Produktionen dabei gewesen, aber immer «uncredited», ohne Namensnennung also, als einer aus dem Riesenheer der Hollywoodstatisten. Henry King, einer von den Alleskönnern Hollywoods, ohne je zu den ganz Grossen zu gehören, erzählte später die Geschichte dieses Castings als launige Anekdote. «Wir waren also so weit, mit den Dreharbeiten anzufangen, und dieser andere Schauspieler (der eine Verpflichtung bei Lubitsch hatte) war immer noch nicht aufgetaucht. Also nahm ich diesen Jungen und steckte ihn in Abe Lees Kostüm. ‹Alles, was du zu tun hast, ist, Vilma Banky nicht aus den Augen zu lassen.› Sie werden es nicht glauben, dieser Kerl stand da von acht Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags! Wo Vilma Banky auch hinging, er liess sie nicht aus den Augen – ob wir drehten oder nicht.»
Als Landvermesser Abe darf Cooper zu Barbara nicht viel mehr als «Adios, hermanita», sagen, und «Schwesterchen» muss sie für ihn bleiben, weil sonst ihr Partner – Ronald Colman, von Cooper ohnehin an die Wand gespielt – völlig untergegangen wäre. Das Engagement bekam Cooper, dessen Rolle im Film denn auch über weite Strecken darin besteht, die Hauptdarstellerin von fern anzuschmachten, jedoch wegen der Todesverachtung, mit der er sich als völlig erschöpfter Meldereiter platt vornüber fallen liess (um ausserhalb des Kameraausschnitts gerade noch ein, zwei Zentimeter über dem Boden aufgefangen zu werden). Der Film ist dramaturgisch unbekümmert gearbeitet, aber immer unterhaltsam – was André Depond, der erste «Hausmusiker» beim Filmpodium, der als einziger zu wissen scheint, dass man das Publikum durchaus schon unterhalten darf, wenn das Licht im Saal noch an ist, am Flügel wie immer beschwingt improvisierend zum Ausdruck brachte.
Zweimal Todeszonen: der Höhen- und der Südpol
Himalaja und Antarktis: Hier braucht es keine Entfesselung der Elemente. Das «männermordende» Potenzial allein schon der Destinationen genügte, um dem Publikum Schauer der Ehrfurcht einzujagen.
Vom tödlichen Ausgang der beiden Expeditionen zu Südpol und Mount Everest zu schweigen. «The Great White Silence» war 1913 erstmals herausgekommen und hatte unter dem Titel «The Undying Story of Captain Scott» riesige Erfolge gefeiert, die der (definitiven) Version von 1924 versagt bleiben sollten, nachdem Herbert Ponting die Rechte an seinem Film erworben hatte (und ebenso derjenigen von 1933, «90° South»). Stand Captain Scotts Schicksal bei Abschluss der Dreharbeiten fest, so musste der Tod von George Mallory und Andrew Irvine ohne wirkliche Evidenz einfach angenommen werden, als Captain John B. L. Noel «The Epic of Everest» (1924) fertigstellte; obwohl inzwischen beider Leichen gefunden wurden, ist bis heute ungewiss geblieben, ob sie seinerzeit den Gipfel erreichten.
Beide Filme sind Meilensteine des frühen Expeditionsfilms. Und bei beiden gehört die Anreise zu den filmisch reizvollsten Momenten. «The Great White Silence» setzt mit dem Auslaufen der «Terra Nova» aus London im Juni 1910 ein und hat so ausreichend Zeit, die Expeditionsmitglieder samt sibirischen Huskys (mit merkwürdig kurzen Schwänzen) und Ponys vorzustellen, deren Freude, nach der Überfahrt im antarktischen Schnee herumtollen zu dürfen, umso berührender wirkt, als ihr Einsatz eine eklatante Fehlkalkulation war. Während die lebenslustigen Pferde, für die wie ersichtlich grosse Mengen an Heu mitgenommen werden mussten, gemäss Zwischentitel ihr «vorbestimmtes Ende» finden werden, wird bei den Hunden, die das dasselbe Schicksal erwartet, nichts dazu gesagt. Ein Sturm bei der Überfahrt hatte bereits Tiere und Menschen arg in Mitleidenschaft gezogen – nicht zuletzt Ponting selber, der, gemäss einem Tagebucheintrag Scotts, dennoch unverdrossen Aufnahmen an Deck machte, unterbrochen von kurzen Ausflügen an die Reling; in der Dunkelkammer hielt die eine Hand die Entwicklerflüssigkeit und die andere die Schale für Notfälle bereit.
Antarktische Tierwelt
Herbert Ponting, konnte nicht nur bereits auf ein bewegtes, abenteuerliches Leben zurückblicken, er war auch ein preisgekrönter Fotograf – seine Aufnahme, aus einer Eisgrotte heraus, der am Eisrand vertäuten «Terra Nova» ist zum ikonischen Antarktisbild schlechthin geworden. Bemerkenswerterweise besass er keinerlei filmische Erfahrung. Umso beeindruckender mutet an, was er im neuen Medium zustandebrachte. Wie wenig später Frank Hurley, der phänomenale und noch verwegenere Fotograf und Filmer von Ernest Shackletons «Endurance»-Expedition (1914-16), lotete er alle denkbaren Aufnahmemöglichkeiten aus, auf dem Schiff wie an Land, wo etwa die humorvoll gedachten Demonstrationen der Polequipe beim Beziehen der Schlafsäcke im engen Zelt zu bewegenden Erinnerungsstücken werden.
Seine Aufnahmen des Tierlebens gehen weit über diejenigen Hurleys hinaus (der hier auf Südgeorgien beschränkt blieb): der Vögel (und zwar nicht nur der Pinguine, die das europäische Publikum noch nicht kannte), der Schwertwale, die ihn in einer berühmt gewordenen, begreiflicherweise nicht gefilmten, aber von Scott bezeugten Aktion von einer Eisscholle zu fegen trachteten (wobei es ihnen wohl nicht um Ponting, sondern um die beim Schiff angeleinten Hunde gegangen war) und vor allem der Robben. Seine Aufnahmen von Weddellrobben, seien es rare Zwillingbabys, sei es das Ausraspeln des Atemlochs im Eis, stünden auch heute noch jeder einschlägigen Dokumentation gut an. Gekonnt schliesslich die Modelle der antarktischen Topografie: Man denkt unwillkürlich an Drohnenaufnahmen, wenn von oben Mount Erebus und das Gelände am McMurdo-Sund in den Blick kommen, von wo aus die Expedition startete. Gelangte vor Jahresfrist die Aufführung von Frank Hurleys «South» (1919) durch die Soundkreationen von Tout Bleu, der Gruppe um Simone Aubert, zu grossartiger Wirkung, so kam dieselbe Formation nun zu «The Great White Silence» leider nicht über banale Einfälle hinaus. Die «entsetzliche Stille», die der Film zu Beginn anspricht, die «appalling silence», sah sich mit einem stumpfen Beat zugedröhnt.
Exploits am Mount Everest
Auch in «The Epic of Everest» betreten wir wildes Terrain. Hier läuft die Bewegung jedoch nicht auf einen imaginären Punkt auf der Landkarte im «leeren» Raum (von Amundsens Zelt dann allerdings brutal aufgefüllt) zu, sondern führt durch von Menschen bewohnte Landschaften. Darüber in weltabgerückter Schönheit der noch unbestiegene Berg, wie er als ferne Erscheinung am Himmel schimmert, ein wahrhaftiger Sitz der Götter. Es war, wie Reinhold Messner sagte, «ein anderer Everest», dem man sich da von Nordosten her näherte. Davor karges, steiniges, «verbotenes», nur dank Sondergenehmigung des Dalai Lama passierbares Land. In diesen Sequenzen ist Noels Film ein ethnographisches Dokument ersten Rangs, dem Saadet Türköz und Constanza Pellicci mit ihren Stimmen, Hans Koch (von ehedem Koch-Schütz-Studer) an der Bassklarinette und David Daniel (Klavier und Elektronik) einen feingewirkten Soundteppich auslegten. Ohne Herablassung werden die Armut und katastrophalen hygienischen Verhältnisse der einfachen Bevölkerung angesprochen, die ersichtlich weniger Hemmungen zeigt, sich filmen zu lassen, als die Expeditionsmitglieder.
Wie Ponting, dessen Film er sich wieder und wieder angeschaut hatte und mit dem ihn später eine enge Freundschaft verbinden sollte, konnte auch Captain Noel bereits auf ein abenteuerliches Leben zurückblicken. Das durch seinen Armeedienst, vor allem in Nordindien, aber auch im Ersten Weltkrieg an der Front geprägt war, wobei er sich schon 1913 in einem klandestinen Vorstoss ins verbotene Tibet dem Everest bis auf gut sechzig Kilometer genähert hatte, bevor er ergriffen und ausgewiesen wurde. Hierauf hatte er bei der zweiten britischen Everestexpedition, 1922, die mit dem Tod zahlreicher einheimischer Träger und Sherpas endete, als Kameramann wertvolle Erfahrung mit Höhe und Kälte gewinnen können (und den Film «Climbing Mount Everest» mitgebracht).
Noels Fähigkeit zur Höhenakklimatisation scheint phänomenal gewesen zu sein. Während der Dreharbeiten zu «The Epic of Everest» stellte er nicht nur seine Sauerstoffvorräte den Alpinisten zur Verfügung, sondern schleppte seine 35-Millimeter-Kamera auf knapp siebentausend Meter Höhe, worauf er, nach zunächst völliger Erschöpfung, bald schon für seine höhenkranken Sherpas kochte. Und so hat der Zögling einer Kunstschule in Florenz den Umständen denn fabelhaftes Bildmaterial abgewonnen, dosiert auch in dezenter Viragierung. Neu waren die Zeitrafferaufnahmen, mit denen wechselnde Lichtverhältnisse dargestellt werden konnten, und erstaunliche Resultate lieferte das weiter verbesserte 500-Millimeter-Teleobjektiv, das er sich für die vorherige Expedition hatte bauen lassen und dessen Sucher mit sechsfacher Vergrösserung ihm zweifellos die Dokumentation der Gipfelbesteigung erlaubt hätte, hätten die Umstände es denn zugelassen.
Schwacher Hitchcock, brillanter Asquith
Was wohl Alfred Hitchcocks «The Manxman» (1929) Aufnahme in die «Entfesselten» verschaffte? Das bisschen Meer, das da an ein paar Felsen anbrandet? Anders als letztes Jahr die superbe Boxergeschichte «The Ring» (1927) gehört diese auf der Isle of Man angesiedelte Kolportage trotz einer vorzüglichen Anny Ondra zu den schwächsten Arbeiten des Master of Suspense – der natürlich auch hier wieder, in dieser Geschichte einer Frau zwischen zwei Freunden, punktuell seinen Sinn für, eben, «suspense» aufblitzen lässt. Anthony Asquith hingegen, sein drei Jahre jüngerer Landsmann, suggeriert mit seinem im selben Jahr entstandenen «A Cottage on Dartmoor» bereits im Titel Bilder von windgepeitschtem Ödland und düsteren Gefängnismauern. Von einer solchen fällt der Held zum Auftakt buchstäblich von oben herab ins Bild, dann, auf seiner Flucht, gleich nochmals von einem Felsen herunter und zuletzt aus dem Kinderzimmer des Cottage, in dem seine frühere Geliebte und deren Mann, dem der eifersüchtige Coiffeur seinerzeit aus Eifersucht beinah die Kehle durchgeschnitten hatte, ihm kurz Zuflucht gewähren, bis er sein Ende durch die Polizei provoziert.
Es ist nicht nur dieser virtuose Einstieg von oben ins Bild, den Stanley Rodwells Kamera auch noch mit tratschenden alten Damen variiert, es sind nicht nur die wiederholten elaborierten Spiegeleffekte, die Asquiths Film zum visuellen Genuss machen. Brillant der langsame Aufbau der Szene mit dem fatalen Rasiermesserschnitt, indem die Kamera von unten den Lederriemen, an dem die Klinge abgezogen wird, diagonal ins Bild fasst – und zwar so, dass er die Kehle bald der einen, bald der andern Coiffeuse durchschneidet, die da im Salon ihrem Disput obliegen. Zum Höhepunkt – und filmgeschichtlichen Schlüsselmoment – führt dann die von drei verschiedenen Personen gestellte und dreimal zustimmend beantwortete Frage: «Will you come with me to a talkie tonight?» Dann sind wir im Kino, es ist Stummfilm und entsprechend das Orchester im Hochbetrieb mit dynamischer Montage zwischen Musik und Publikum, bis eben die Stunde des «talkie» schlägt: des Tonfilms, der 1929 zu seinem Siegeszug ansetzt. Nun dürfen sich die Musiker im «Orchestergraben» verlustieren, trinken, rauchen, Karten spielen – uneingedenk des Umstands, dass es sie bald nicht mehr brauchen wird.
Was es hingegen in diesem Film, der raffiniert Totenglöckchen und Apotheose des Stummfilms vereint, unbedingt braucht: die ordnende Hand des Pianisten, und zwar diejenige Neil Brands, des international renommierten englischen Stummfilminterpreten und seit langem «regular» im Filmpodium, der sich der Aufgabe in gewohnter Souveränität und Souplesse annahm. 2003 von Martin Girod ins Leben gerufen, ist die Veranstaltung längst einer der Höhepunkte im Programm des Filmpodiums, dessen neue Leiterin, Nicole Reinhard, die Aktivitäten nun nochmals ausgeweitet hat. Nicht nur wurde die Kooperation mit dem IOIC (Institute of Incoherent Cinematography) und seinen Musikern weiter ausgebaut, man hat sich auch neue Spielstätten erschlossen: von der Musikschule im Konservatorium zum Moods und dem Kunstraum Walcheturm bis zur Abschlussveranstaltung im Schauspielhaus Pfauen.
Bildquellen: Filmpodium/Svensk Filmdatabas/pd