Aus diesem und dem letzten Jahr sind zunächst drei Bücher mit klarem Ausweis künftiger Klassiker anzuzeigen, die in der Handbibliothek des an welthistorischen Zusammenhängen interessierten Zeitgenossen nicht fehlen dürften: eines davon über Afrika, die anderen beiden über Asien und asiatische Ursprünge westlicher Kulturentwicklung.
Wer über Afrika nur ein Buch lesen dürfte, wäre nicht schlecht beraten mit «Eine afrikanische Geschichte Afrikas: Vom Ursprung der Menschheit bis zur Unabhängigkeit», von der Zeitschrift «Bild der Wissenschaft» nominiert für das Wissenschaftsbuch des Jahres 2025. Die Autorin Zainab Badawi, im Sudan geboren, arbeitet seit bald dreissig Jahre bei der BBC in London mit Spezialgebiet Afrika und Middle East. Aus dem Untertitel ihres Buchs ist leicht zu erraten, dass es sich nur um eine Auswahl von Streiflichtern handeln kann. Was sonst sollte ein verdauliches Menu sein können bei diesem Kontinent, grösser als die amerikanische Landmasse nördlich von Panama, mit seinen 54 Ländern, in denen von ebenso vielen Völkerschaften über ein Drittel der weltweit gut 6000 Sprachen gesprochen werden? In diesen uferlosen, absolut disparaten Gemengelagen an Stoff sind es Proben, die ein solches Geschichtswerk herausgreifen kann, und ohne gewagte Verbindlichkeit, was deren repräsentativer Charakter angeht, können Anspruch und Resultat nur eine wiederkehrende Ahnung sein, worum es in solchen Landschaften historischer Forschung und Aufbereitung geht. Durchweg ist Zainab Badawi eine Meisterin der Anschaulichkeit.
Für die sieben Millionen Jahre unserer hominiden Vorfahren und die Wiege des Homo sapiens, von wo wir alle herkommen, bis zu den ersten sesshaften Ackerbauern braucht Badawi 24 Seiten. Dann besucht sie mit Herodot, Napoleon und der Hobbyorientalistin Agatha Christie das Ägypten der Pharaonen, deren Reiche bei dramatischem Auf und Ab immerhin noch mehr als zweieinhalb Jahrtausende Bestand hatten. Weiter führt die Reise südwärts durch die kuschitischen Königreiche im sudanesischen Niltal, auch diese in wiederkehrender Blüte zwischen 2500 und 500 vor unserer Zeit, und von da ins äthiopische Hochland nach Axum, dem Zentrum des ostafrikanischen Axumiterreichs, das vom 1. bis zum 10. Jahrhundert besteht, das heutige Eritrea, den Norden Äthiopiens, Teile des Sudans umfasst, zeitweilig nach Osten über das Rote Meer ausgreift und bis zu dessen südlichem Ausgang die von den ägyptischen Kopten übernommene Botschaft des Christentums verbreitet.
Wir machen Bekanntschaft mit den nordafrikanischen Ureinwohnern der Mittelmeersüdküste, mit Hannibals Puniern und anderen Berbern, die auf ihrem Boden im 7. Jahrhundert die Araber und die springflutartige Expansion des Islam in Empfang zu nehmen haben, wonach wir uns in den blühenden Sahelreichen des Mittelalters wiederfinden, wo in Westafrika einige der reichsten Männer der Menschheitsgeschichte das Zepter führen. In die Neuzeit führt uns die Geschichte des Sklavenhandels, ab dem 15. Jahrhundert dessen transatlantischer Zweig unter der Ägide der imperialen Seemächte Westeuropas, während der arabische Zweig schon um die vorletzte Jahrtausendwende eingesetzt hat. Im späten 19. Jahrhundert folgt die koloniale Unterwerfung und Aufteilung des Kontinents, im 20. die Geschichte des Widerstands, der Befreiung, des Wegs in die Selbstbestimmung. Der Epilog des Buchs: Was treffen wir heute an? Was haben wir zu erwarten und dürfen wie hoffen? Der Frage fehlt es nicht an Aktualität: 2050 wird ein Viertel der Menschheit in Afrika leben.
Eine afrikanische Geschichte Afrikas: Vom Ursprung der Menschheit bis zur Unabhängigkeit. Piper, München 2024. 448 S.
Afrika als Wiege der Menschheit ist uns allen vertraut. Derzeit blicken wir mehr nach Europas östlichen Grenzen. Manche werden davon gehört haben, dass das wissenschaftliche Erbe der alten Griechen, ihre Mathematik, Astronomie, Physik, Optik, Medizin und Philosophie nach weiten Umwegen über den Orient erst im Spätmittelalter wieder nach Europa zurückgefunden hat, für die christliche Welt gerettet durch die Leistungen der islamischen Gelehrtenwelt, darunter auch einige Araber, angeführt aber mehrheitlich durch Perser und persischsprachige Köpfe aus Zentralasiens. Das frühneuzeitliche Europa der Renaissance und des Humanismus verdankt in seinem kulturellen und kometenhaften wissenschaftlich-technischen Aufstieg alles dem Orient. Wem aber ist bekannt, dass auf dem langen Rückweg des antiken Wissens nach Westen in der Spätantike und im frühen Mittelalter Indien eine Schlüsselrolle zukam? Vielleicht haben wir gehört, dass die Ziffer 0 und das Dezimalsystem aus Indien stammen?
In Mesopotamien verdrängt um die Mitte des 8. Jahrhunderts die Dynastie der Abbasiden mit ihrer überwiegend persischen Hausmacht die bis dahin in Damaskus regierenden Umayyaden von der Herrschaft über die Umma, die Gemeinschaft aller Muslime. Den unvergleichlichen Glanz der neuen Hauptstadt Bagdad kennen wir aus dem Märchen vom Kalif Storch mit den gefährlichen Abenteuern des grossen Harun al-Raschid. Vielleicht ist uns der Elefant al-Abbas ein Begriff, den er seinem christlichen Amtskollegen Karl dem Grossen geschenkt hat und der nach einem Marsch von 5000 Kilometern am 20. Juli 802, überbracht vom jüdischen Kaufmann Isaak, in Aachen eintrifft. Doch bereits unter Haruns Grossvater al-Mansur steigt Bagdad zum Weltzentrum der Gelehrsamkeit auf, wo in den folgenden Jahrhunderten mit industriellem Elan griechische Texte ins Arabische übersetzt werden. Das wissenschaftliche Spitzenpersonal allerdings, die bahnbrechenden Mathematiker, Astronomen und Lehrer der Herrschersöhne, sind bereits zu al-Mansurs Zeiten dauerhaft niedergelassene Gäste aus Indien. Zu deren Hintergrund, der Geisteswelt, der sie entstammen, hat bisher ein Buch fürs breite Publikum gefehlt. Der schottische Journalist und Historiker William Dalrymple hat letztes Jahr mit einem hochgepriesenen Werk diese Lücke geschlossen und dargelegt: Um die Mitte des ersten Jahrtausends, nach dem Untergang des Römischen Reichs, lag das Weltzentrum von Wissenschaft und Gelehrsamkeit in Indien – mit vielfältiger Ausstrahlung nicht nur nach Westen, sondern ebenso nach Südostasien und bis nach Indonesien.
William Dalrymple: The Golden Road. How Ancient India Transformed the World. Bloomsbury, London 2024. 485 S. Auf dem Buchrücken Salman Rushdie: «That rarity, a scholar of history who can really write.»
Was aus der Spätantike hat sonst noch Krümel in unserem Gedächtnis hinterlassen? Etwa aus dem 4. und 5. Jahrhundert? Die sogenannte Völkerwanderung vermutlich und, ja, wahrscheinlich Attila oder Etzel, der Hunnen-Schreck mit seinen apokalyptischen Reiterscharen, die aus den Tiefen Asiens bis nach Belgien und an die Loire vordringen und die Römer das Zittern lehren. Nicht nur diese, auch die Hunnen sollen viel getrunken haben, und wie wir hören, waren sie nicht zart besaitet. In letzter Zeit können wir über viele Dinge mehr wissen, sogar über die Hunnen. Wer waren sie, woher kamen sie, was taten sie? Der Tübinger Historiker Mischa Meier räumt mit Klischees auf und gewährt uns einen Blick hinter die Legenden:
Die Hunnen. Geschichte der geheimnisvollen Reiterkrieger. C. H. Beck, München 2025. 534 S.
Wollen wir noch einen Schritt in die Neuzeit wagen? Das schönste Buch, das ich in den letzten Monaten gelesen habe: «Ananas. Geschichte eines Aufstiegs». Bloss der deutsche Untertitel hat mich bekümmert. Im Original mit Titel «Pineapple» ist der Untertitel «A Global History», und damit ist mit drei einfachen Wörtern genau gesagt, worum es sich handelt: eine Weltgeschichte nämlich von Columbus bis zu unserer Gegenwart, im Ausgang von der Karibik und Brasilien über alle fünf Kontinente. Und Sie können sich nicht vorstellen, was Sie als Weltreisende in diesem Büchlein nebst den dramatischen Transportproblemen für eine phanantastische Themenvielfalt erwartet! Dazu unschätzbare Perlen unter den vielen Abbildungen.
Die Autorin Kaori O’Connor war Anthropologin mit Spezialgebiet Ernährung unter besonderer Berücksichtigung kolonialer und nachkolonialer Räume. Ich kenne keine schönere Art, Geschichte zu lesen, und habe deshalb das Büchlein schon ein halbes Dutzend Mal verschenken müssen. (Kaori O’Connor: Ananas. Geschichte eines Aufstiegs.
Harper Collins Deutschland, Hamburg 2025. 192 S. Original: Pineapple. A Global History. Reaktion Books, London 2013. 158 S.
Nach dem faktenbasierten Hauptgang ein fiktionaler Nachtisch? Nach so viel fremden Welten und fernen Zeiten ist im August ein Roman erschienen, der uns energisch in die Gegenwart einer ungeschönten Alltagswelt befördert: «Botanik des Wahnsinns», Roman von Leon Engler. Ein Sohn und Enkel ausnahmslos psychisch kranker bis schwerkranker Eltern, Stiefelternteile, Grosseltern und Urgrosseltern zweifelt verständlicherweise an den ungetrübten Aussichten, diesem Erbe vollends schadlos zu entkommen. Trotzdem oder eben darum ist nach einigen erfolglosen Fluchtversuchen das Programm des jungen Erwachsenen, seinen Stammbaum mit der überreichen Pathologie seines Familienvorlebens in den offenen Blick zu nehmen. Er studiert Psychologie und arbeitet schliesslich in der Psychiatrie, in Anstalten, wo vor ihm Mutter und Grossmutter und Grossvater als Geisteskranke einsassen. Im Andenken an den schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707–1778), Vorreiter genetischer Abstammungslehren und Vater der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie, vertieft er in der Klinik seine Erfahrungen mit der aussichtslosen Unangemessenheit des Vokabulars psychiatrischer Diagnostik. Diese spielt kaum eine Rolle auf seinem Weg, mit den Patienten haushalten zu lernen. Die ungeheure Vielfalt, auf die er in deren Welt trifft, assoziiert sich leicht mit der Botanik, widersetzt sich aber der klinischen Klassifizierung mindestens so gründlich wie das Gemisch gesellschaftlicher Milieus im Wildwuchs ausserhalb der Anstaltsmauern.
In der NZZ hat die Feuilletonredaktorin Birgit Schmid kürzlich eine Seite lang mit dem Autor gesprochen, der ausser als Autor auch als Psychologe und als Dozent für Psychologie und Literarisches Schreiben und als Therapeut tätig ist. https://www.nzz.ch/feuilleton/leon-engler-botanik-des-wahnsinns-vom-wahnsinn-in-familien-ld.1897514 (Für Leser, die keine NZZ-Abonnenten sind: https://georgbrunold.org/LeonEngler.pdf). Auf die Lektüre dieses Interviews hin habe ich mir dieses Buch besorgen müssen. Das Deutschschweizer Radio, und zwar SRF1 und SRF2, unterbricht mit Beiträgen zu Leon Engler meine Lektüre. Ich bin rasch überzeugt, eines der besten mir bekannten Psychologiesachbücher in der Hand zu halten, aber dies mehr nebenbei. Denn in erster Linie staune ich über die Kunst eines Schriftstellers, der kann, was er sich vornimmt, was in diesem Fall allerhand heissen will.
Aber wenn wir schon bei der Psychologie sind … Im verregneten Tessiner Ferienhaus eines Neffen greife ich in einer Lektürepause aus dem Bücherregal über dem Bett ein Diogenes-Taschenbuch von 1978, das ich erst zum Ende des 2. Kapitels auf Seite 50 wieder niederlege. Auf dem Buchrücken rühmt François Bondy den Autor als «Meisterstilisten in einfachster Sprache». Diesen, nämlich Georges Simenon, übertrifft höchstens noch der Meisterpsychologe gleichen Namens. «Maigrets erste Untersuchung» ist der Titel», im Original von 1949 «La premiere enquête de Maigret». Maigret sinnt darüber nach, was aus ihm hätte werden können, nachdem der Tod des Vaters seinem Medizinstudium schon nach zwei Jahren ein Ende bereitet hatte – und «eigentlich hatte er nie wirklich Arzt werden und Kranke behandeln wollen». Den Beruf, schliesst er, «den er seit je hatte ausüben wollen, den gab es nicht». In seinem Tagtraum stellt sich Maigret derweil einen «sehr verständnisvollen Mann vor [«compréhensif», im Original] …, der das Schicksal eines anderen auf den ersten Blick begreift. … Man hätte diesen Mann konsultiert, wie man einen Arzt konsultiert. Er wäre sozusagen ein «Schicksalsflicker» gewesen» – [«un raccommodeur de destin» im Original, ein Flickschneider]. «Nicht nur, weil er intelligent war», fügt er hinzu. «Vielleicht brauchte er gar nicht besonders intelligent zu sein. Nein, weil er sich in das Leben aller Menschen versetzen, in die Haut aller Menschen schlüpfen konnte.» Dieser «homme compréhensif» war, heisst es viel schöner und unübersetzbar im französischen Original, «capable à vivre la vie de tous les hommes».
«Sind nicht gerade Polizeibeamte manchmal ‹Schicksalsflicker›?», fragt sich Maigret. Und Daniel Kampa, der bei Diogenes zwanzig Jahre lang Simenon betreute, hat in seinem 2018 gegründeten Kampa Verlag «Maigrets erste Untersuchung» 2019 neu herausgegeben, in neuer Übersetzung und mit zwei Nachworten von Annette Walter und Hanjo Kesting.
Georges Simenon: Maigrets erste Untersuchung. Kampa Verlag, Zürich 2019. 256 S.
Der Schriftsteller, Psychologe und praktizierende Therapeut Leon Engler ist kein Polizist, alles andere. In seinem Buch voller Verzweiflung mag der Leser sich wundern, wie er dem allem standhalten soll, und zu meiner Irritation verfolgt mich pausenlos der zugleich deprimierende und tröstliche Gedanke, dass ich das Leben so mancher mehr und minder normaler Mitbürger in meinem Bekanntenkreis nicht möchte leben müssen. Doch auf diesen 200 Seiten mit ihrem raschen Wechsel von Schauplätzen und Zeiten bleibt alles in Bewegung, und auf Schritt und Tritt wartet die Trübsal mit stillen, sanften Beweisen auf, dass das Leben stärker ist. In der Flickschneiderkunst zeigt sich der Autor dieses Romanerstlings seinem ungemein liebeswerten Helden gewachsen. Beide höchst beeindruckende Meister.
Leon Engler: Botanik des Wahnsinns. Roman. Dumont, München 2025. 207 S.
Jetzt bleibt nur der Hinweis auf das verlegerische Grossereignis aus Benedikt Taschens Werkstatt:
Francisco de Goya: The Complete Prints. Directed and produced by Benedikt Taschen. Autoren: Matilla, José Manuel; Reuter, Anna. Dreisprachig: englisch, deutsch, französisch. Taschen, Köln 2025. 600 S. In Deutschland 100 Euro, bei Orell Füssli 134 CHF.
Wer noch Platz bei sich zu Hause hat, wird das einmalige Buch besorgen müssen. Eine Präsentation im «Journal21» muss auf einen Experten warten.