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Jemen

Auf dem Weg in den zerstörten Staat

28. Juni 2017
Arnold Hottinger
Eine Übersicht über den bisherigen Kriegsverlauf.

An einer Konferenz der „London School of Economics“ über Jemen wurde eine Analyse der Luftangriffe der saudischen Koalition vorgestellt, die am 26. März 2015 begannen und seither fortdauern. Aus einer Übersicht der bombardierten Ortschaften und Objekte geht hervor, dass der saudische Luftkrieg gegen Jemen in drei Phasen geführt wurde.

Ausweitung des Bombenkrieges

In der ersten Phase, die sich von Ende März bis Ende Juli erstreckte, wurden in erster Linie militärische Ziele bombardiert. Eine zweite Phase begann im August 2015 mit der Bombardierung des Hafens von Hodeida und mit Angriffen auf die Zentren der landwirtschaftlichen Produktion, Märkte, Bewässerungsanlagen, landwirtschaftliche Ausbildungszentren, Dorfschulen und Kliniken, landwirtschaftliche Betriebe, Viehzucht-Betriebe, Transporte von landwirtschaftlichen Produkten.

Diese Phase dauerte über ein Jahr lang an, bis August 2016. In jenem Monat beendeten die verbliebenen Regierungsstellen in Sanaa ihre Erhebungen über Verluste und Zerstörung der landwirtschaftlichen Strukturen durch Bomben. Auf Anfragen antworteten sie, es sei ohnehin „alles zerstört“.

Flucht aus den Dörfern

Die Kommentatorin dieser Zusammenstellung, die Anthropologin Martha Mundy, merkt an: 65 Prozent der jemenitischen Bevölkerung lebten bis 2015 auf dem Land und von der Landwirtschaft. Die grösste Menge der aus ihren Häusern Vertriebenen seien bisherige Landbewohner, nämlich zwei Drittel aller Dorfbewohner. Durch die Vertreibung seien rund die Hälfte aller ländlichen Arbeitskräfte verloren gegangen. Die Flüchtlinge hielten sich überwiegend in den Städten und in Lagern in ihrem Umfeld auf, die meisten ohne Beschäftigung.

Schlag gegen die Geldwirtschaft

Die dritte Phase setzte ein, während die zweite noch weitergeführt wurde, als im Herbst 2016 die jemenitische Zentralbank in Sanaa geschlossen und in Aden wieder eröffnet wurde. Diese Massnahme richtete sich gegen die verbliebenen staatlichen Strukturen und Einrichtungen.

Sie unterband die Entlohnung der staatlichen Angestellten in den von den Huthis beherrschten Gebieten, die nach wie vor die meist bevölkerten Teile Jemens umfassen. Gleichzeitig sind die von den pro-saudischen Kräften und der offiziellen Regierung al-Hadis beherrschten Teile Süd-und Ostjemens nicht in der Lage, ihrerseits eine Verwaltung in ihren Landesteilen aufzubauen, weil dort zu viele unterschiedliche und entgegengesetzte Kräfte um Vorherrschaft ringen. Dazu gehört Ex-Präsident al-Hadi und die zu ihm haltenden jemenitischen Truppen und deren saudische politische und finanzielle Paten.

Wenige verschonte Gebiete

Hinzu kommt die nach Autonomie oder Unabhängigkeit strebende Mehrheit der südjemenitischen Bevölkerung sowie die halb offen auftretenden, halb verborgenen und sich gegenseitig konkurrierenden Extremistengruppen von al-Kaida und vom IS mit ihren Mordanschlägen. Und nicht zuletzt gibt es die Truppen der Emirate, die neuralgische Punkte des Südens, Häfen und Flughäfen sowie gewisse Verbindungsstrassen, besetzen.

Die Folge scheint zu sein, dass es nur noch einige wenige privilegierte abseits liegende Provinzen gibt, in denen es Gouverneuren und verbündeten Stammesoberhäuptern gelang, lokal einigermassen funktionierende Strukturen zu improvisieren. Die Wüstenprovinz Marib gehört dazu, wo die Truppen al-Hadis herrschen, sowie auch die Hafenstadt Mukallah, wo gegenwärtig von den Truppen der Emirate ausgebildete lokale Milizen für Ordnung sorgen, sowie auch die fern abgelegenen Städte des Hadramaut, die von Krieg und Bomben weitgehend verschont geblieben sind.

Angriff auf die Geldwirtschaft

In der Hafenstadt Mukallah hatten seit April 2015 ein Jahr lang die Kämpfer der Kaida geherrscht. Doch sie haben sich kampflos in die umliegenden Wüsten entfernt, als die Truppen der Emirate die Stadt vom Meer aus einnahmen. Aden jedoch, nun offiziell Sitz der jemenitischen Zentralbank, ist zu chaotisch, um eine reguläre lokale Verwaltung aufzubauen, und die meisten der Fachkräfte der Zentralbank weigerten sich, nach Aden umzusiedeln.

Mit der Verpflanzung und praktischen Stilllegung der Zentralbank geht ein Versuch der saudischen Koalition und Präsident al-Hadis einher, die Küstenebene am Roten Meer, Tihama genannt, und ihre Häfen zu erobern. Offenbar mit dem Ziel, die Huthis und die von ihnen beherrschten grössten Teile der Bevölkerung von der Aussenwelt abzuschneiden. Das wäre das Ende der letzten Reste einer Geldwirtschaft für die grosse Mehrheit der Jemeniten.

Endziel der Offensive, bisher noch nicht erreicht, ist die Hafenstadt Hodeida. Sie bildet den Eintrittspunkt der internationalen Hilfe für die dicht bewohnten, hoch gelegenen und relativ fruchtbaren Teile des Landes, die weiterhin von den Huthis beherrscht werden, sowie der wenigen Nahrungsmittel-Importe, die trotz der Blockade der saudischen Koalition noch nach Jemen gelangen.

Hunger und Cholera

Vor dem Krieg importierte Jemen nicht weniger als 90 Prozent seiner Nahrungsmittel. Hauptdevisenbringer war das Erdöl, das im Inneren der Wüste gefördert wurde, aber heute nicht mehr durch die Rohrleitungen fliesst, weil die Förderung und der Transport durch die Kriegshandlungen unterbrochen wurden. Dies ist der Hauptgrund der heute herrschenden Hungersnot.

Der Grund für die beständig um sich greifende Cholera liegt primär in der immer prekärer werdenden Trinkwasserversorgung, die zum Trinken von verunreinigtem Wasser führt. Dazu kommen in den Städten und Ortschaften unkontrolliert wachsende Abfallberge, weil wegen des Geldmangels der Verwaltungen die Müllabfuhr nicht mehr funktioniert.

Die meisten Staatsbeamten und Angestellten sind seit Monaten nicht mehr entlohnt worden. Dies trifft auch für die Mitarbeiter der wenigen noch betriebsfähigen Kliniken zu, die den Bomben ganz oder teilweise entkommen sind.

Eskalation

Die Ausweitung der Bombardements vom militärischen zum landwirtschaftlichen und weiter in den Bereich der gesamten staatlichen Strukturen mit dem Ziel einer Zerstörung des von den Huthis beherrschten Staates ist nicht notwendigerweise das Resultat einer teuflischen Strategie, die von vorneherein festgelegt worden wäre. Die Abfolge der Zerstörungen könnte auch einfach dadurch zustande gekommen sein, dass die saudische Koalition und ihre leitenden Köpfe jeweils vor der Wahl standen, einen Misserfolg eingestehen zu müssen oder aber ihre Aktionen zu verschärfen, wenn sie feststellen mussten, dass ihre Gegner nicht aufgeben wollten.

Kriegsziel: Zerstörung des Staates

Der Krieg, so wie sie ihn nun führen, richtet sich offensichtlich auf die Zerstörung des gesamten jemenitischen Staatswesens. Die Anführer der Koalition scheinen sich gezwungen zu sehen, auf einen Zusammenbruch des jemenitischen Staates hinzuarbeiten, um nicht zugeben zu müssen, dass ihr Bombenkrieg fehlgeschlagen war. Denn er hat nicht zu einer Kapitulation des von den Huthis und ihren Verbündeten in der jemenitischen Armee beherrschten jemenitischen Staates geführt.

Je gründlicher sie den von den Huthis beherrschten Staat zerstören, desto unwahrscheinlicher wird, dass sie ihn nach dem angestrebten Zusammenbruch weder aufrichten können. Vielmehr wird sich ein Zustand des Chaos ergeben. Es wird von der Art sein, wie er im benachbarten Somalia seit 26 Jahren besteht. Das Chaos wird – wie dort – Gelegenheit für religiöse Extremisten bieten, ihre blutgetränkte Version eines eigenen Gottesstaates in weiten Teilen des Landes durchzusetzen. Die Extremisten leben vom Chaos, weil es ihnen jene in die Arme treibt, die des Chaos und der Unsicherheit leid sind und daher verzweifelt Halt, Orientierung und im Zeichen der millenaristischen Verheissungen sogar ihr Glück suchen.

Mitschuld der Waffenlieferanten

Die Aktionen der saudischen Koalition könnten nicht mit der verheerenden Gründlichkeit durchgeführt werden, die sie heute auszeichnet, wenn nicht die westlichen Staaten – allen voran die USA und Grossbritannien – Saudi Arabien gegen viel Geld technisch hoch entwickelte Waffen verkauften und dazu auch noch dafür sorgten, dass diese mit grösstmöglicher Wirkung zur Anwendung kommen.

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