Waren es wirklich russische Kräfte, die den Kachowka-Staudamm gesprengt haben? Oder gäbe es andere Möglichkeiten?
Den Russen ist zur Zeit jedes Kriegsverbrechen zuzutrauen. Deshalb wurden sie auch sofort verdächtigt, den Damm des Kachowa-Stausees zerstört zu haben. Doch die Faktenlage ist nicht klar.
Da gibt es die Meldung, wonach der ukrainische Geheimdienst ein Telefonat russischer Truppen mitgeschnitten hat. Dieses belege, dass russische Kräfte, vielleicht Dissidenten, den Staudamm gesprengt haben. In der vom Inlandgeheimdienst auf Telegram veröffentlichten, etwa anderthalb Minuten dauernden Aufzeichnung sollen sich zwei Männer auf Russisch über den geborstenen Damm unterhalten haben.
«Es lief nicht nach Plan»
Einer der Männer sagt: «Sie (die Ukrainer) waren es nicht, die ihn (den Damm) getroffen haben. Das war unsere Sabotagegruppe.»
Die beiden Männer werden vom ukrainischen Geheimdienst als russische Soldaten beschrieben. Man habe nur Schrecken verbreiten wollen, sagen sie. Aber: «Es lief nicht nach Plan.» (Die Saboteure) «haben mehr getan, als sie geplant haben». Eine unabhängige Überprüfung dieser Meldung gibt es zur Zeit nicht.
Wurde der Damm nicht auf Befehl der russischen Armee gesprengt? Stand dahinter eine auf eigene Faust agierende Splittergruppe? Das wäre insofern nachvollziehbar, als die Russen kein Interesse haben mochten, dass weite Teile des von ihnen besetzen Landes überschwemmt wurden.
Zudem kursiert in den sozialen Medien ein ganz kurzes Video, das eine Explosion und eine Wasserfontäne an einem Staudamm zeigen soll. Es lässt sich nicht überprüfen, wann und wo diese Sequenz entstand.
Explosion um 02.43 Uhr
Die Vermutung, dass der Damm von russischen Kräften gesprengt worden war, erhält jetzt durch eine Meldung aus Norwegen neue Nahrung. Der Zusammenbruch des Damms ereignete sich in der Nacht zum Dienstag um 02.43 Uhr. Ben Dando, der Chef des norwegischen seismologischen Instituts Norsar, erklärte gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP: «Wir sind sicher, dass es eine Explosion gab», und zwar genau zum Zeitpunkt des Dammbruchs. Angaben zum möglichen Auslöser der Detonation machte das norwegische Institut nicht. Die Stärke der Detonation habe «zwischen 1 und 2» gelegen. «Das ist keine leichte Explosion», erklärte Dando.
Die Detonation wurde auch von der Bukowina-Messstation in Rumänien festgestellt. Sie liegt 620 Kilometer vom Ort der Explosion entfernt.
Russische Schuldzuweisung
Das offizielle Russland hatte zuerst behauptet, die Ukraine selbst habe den Damm mit einer Rakete mit Mehrfachsprengköpfen zum Einsturz gebracht. Dafür gibt es keine Indizien. Erstens wurde zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs auf Satellitenaufnahmen keine Rakete in dieser Gegend gesichtet.
Zweitens wurde von niemandem in der Region ein Raketeneinschlag gehört. Und drittens muss man sich fragen, welches Motiv die Ukrainer gehabt hätten, weite Teile ihres Landes überfluten zu lassen. Auch das vom Geheimdienst abgehörte Telefonat – sollte es echt sein – weist nicht auf eine ukrainische Urheberschaft hin.
Alter, brüchiger Damm
Doch in den letzten Tagen tauchte auch eine andere Vermutung auf. Der Kachowa-Staudamm ist siebzig Jahre alt und hat sich erwiesenermassen seit langem in einem sehr schlechten Zustand befunden. Bereits vor dem Zusammenbruch am letzten Dienstag fehlten dem Damm einige Betonstücke. Experten schlossen deshalb nicht aus, dass das Bauwerk, das sich seit der russischen Invasion unter russischer Kontrolle befindet, aus Schlamperei oder bewusst nicht gewartet wurde.
Der See, der früher 18 Milliarden Kubikmeter Wasser fasste, war zu Beginn des Jahres von den Russen stark abgesenkt worden. So stark, dass befürchtet wurde, dass das Atomkraftwerk Saporischschja nicht mehr mit Wasser gekühlt werden könnte. Im Frühjahr dann stieg der Pegel wieder stark an, und zwar auf eine Rekordhöhe von 17,5 Meter. Haben die Russen den Stausee bewusst voll laufen lassen, oder wussten sie nicht, wie der Zu- und Abfluss reguliert wird? Hat der Druck der Wassermassen die Staumauer zum Einsturz gebracht?
Noch liegt vieles im Unklaren. Waren es russische Dissidenten, war es russische Schlamperei? Zur Zeit kann nur spekuliert werden. Fest steht nur, dass derzeit 600 Quadratkilometer unter Wasser stehen, darunter 32 Prozent auf von Kiew kontrolliertem Gebiet, 68 Prozent auf von Moskau besetztem Territorium.
Journal 21