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Ein Erlebnisbericht

Als die Menschen auf dem Petersplatz tanzten

23. April 2025 , Rom
Heiner Hug
Franziskus
13. März 2013: Der 76-jährige argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio wird im 5. Wahlgang zum 265. Papst gewählt. Er nimmt den Namen Franziskus an. (Foto: EPA/Ansa)

Es war ein kühler Märzabend. Ich begleitete die Sonderkorrespondentin des Schweizer Fernsehens (SRF) auf den Petersplatz in Rom. Dort begann jetzt ein spektakulärer Abend. Laut offizieller Schätzung hatten sich an diesem 13. März 2013 hunderttausend Menschen auf dem Platz und in den angrenzenden Strassen versammelt. 

Hinten auf dem Platz hatte die Eurovision ein riesiges Gerüst aufgebaut. Darin befanden sich auf vier Etagen Dutzende sogenannte «Stand-up-Positions». TV-Korrespondenten aus aller Welt standen dort – einer und eine neben den andern –vor Live-Kameras und berichteten – mit dem Petersdom im Hintergrund. Links neben der SRF-Korrespondentin stand ein Pole, rechts ein Spanier, in der Etage unter ihr eine Australierin. 

Bald geht es los. Alle sind hochkonzentriert. Kurz zuvor, um 19.06 Uhr, war weisser Rauch aus dem Kamin des Petersdoms aufgestiegen. Die katholische Welt hat einen neuen Papst. Doch wer ist das? Das sollten die Menschen hier auf dem Platz und in aller Welt in wenigen Minuten erfahren. Nichts, aber auch gar nichts war im Voraus durchgesickert. Einen klaren Favoriten gab es nicht. 

Beatrice Müller, die SRF-Korrespondentin, hatte sich vorbereitet. Vor sich hatte sie ein Dutzend Zettel mit den Namen und den Lebensläufen der Papabili, der möglichen neuen Päpste. Würde sie es dann schaffen, kurz nach Ankündigung des Namens des Neuen, den richtigen Zettel zu finden? 

… als stünde jetzt das Schicksal der Welt zur Disposition

Wird der Neue wieder ein Ausländer sein? Oder wird nach dem Polen Johannes Paul II. und dem Deutschen Benedikt XIV. doch wieder endlich ein Italiener für den Heiligen Stuhl erkoren? Viele Namen zirkulierten. Matteo Zuppi, der Erzbischof von Bologna, war für viele in der Pole Position. Der vatikanische Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin galt für andere als heisser Tipp. Auch der Italiener Pierbattista Pizzaballa, der erste Patriarch von Jerusalem im Kardinalskollegium, wurde gehandelt. Der konservative ungarische Erzbischof von Budapest Peter Erdö wurde von den Anhängern des zurückgetretenen Deutschen Ratzinger unterstützt. 

Und unter den möglichen Kandidaten befand sich auch ein Aussenseiter: der argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio. Auf dem Zettel der SRF-Korrespondentin stand: «Bergoglio, 1936 in Buenos Aires geboren, gilt als sehr sympathisch und progressiv. Wird es schwer haben, sich gegen den erzkonservativen Klerus durchzusetzen.»

Auf dem Platz wurde es langsam dunkel. Kurz zuvor war leichter Regen gefallen. Die meisten Menschen waren eingepackt in dicke Mäntel. Eine alte Italienerin rief: «Möge uns der Neue Frieden und Gerechtigkeit bringen.» Andere sangen religiöse Lieder. Wieder andere beteten, als stünde jetzt das Schicksal der Welt zur Disposition.

Plötzlich: Totenstille

Ich schaute auf den Eurovisionsturm hinauf. Einige der Korrespondenten und Korrespondentinnen waren schon auf Sendung und sprachen und sprachen zum Publikum in ihrem Land.

Zehntausende Augen blickten immer wieder auf die Benediktiner-Loggia des Petersdoms. Dort sollte demnächst der rote Vorhang gezogen werden und sich der neue Papst präsentieren.

Dann wurde es totenstill. Fast unheimlich. Über Transistorradios hatten einige auf dem Platz erfahren, dass der grosse Moment unmittelbar bevorsteht. 

«Fratelli e sorelle, buona sera»

Und dann war er da, der grosse Moment. Es ist 20.12 Uhr. Der Vorhang wird gezogen. Und da steht er. Er lächelt. Niemand kennt ihn. Sein freundliches Gesicht erscheint auf vier riesigen Bildschirmen, die auf dem Platz aufgestellt sind. 

Mit ruhiger Stimme sagt er: «Fratelli e sorelle, buona sera.» Es ist, als ob ein Damm bräche: Tosender Jubel erfüllt den Petersplatz. Einige Menschen stampfen vor Freude und heben die Arme zum Abendhimmel. Der erste Eindruck, den Papst Franziskus vermittelt, überwältigt die Masse. 

«Fratelli e sorelle, buona sera.» Auf Italienisch. Kein lateinisches Geschwurbel , wie es viele seiner Vorgänger von sich gaben. Kein intellektuelles Blabla, ein Papst für die Menschen.

«Terribly nice»

In den ersten Sekunden haben die Menschen ein Urteil gefällt. «Ich kenne den Mann nicht», sagte mir eine Amerikanerin später ins Mikrofon, aber er ist «terribly nice».

Und der neue Papst fügt bei: «Wie ihr wisst, war es die Pflicht des Konklaves, Rom einen Bischof zu geben. Wie es scheint, sind meine Kardinalsbrüder nahezu bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu bekommen.» Wieder stürmischer Beifall. «Endlich ein Papst mit Humor», kommentiert eine ältere Italienerin mit Tränen in den Augen.

Der erste Eindruck, den man hinterlässt, entscheidet darüber, ob man beim Publikum ankommt oder nicht. «Fratelli e sorelle, buona sera» – fünf Worte und ein Lächeln genügten. In den ersten Sekunden werden die Weichen gestellt. Seine Freude, seine Empathie, sein freundliches Lachen schwappen auf die Menschen auf dem Platz über.

Aufgedreht, übermütig, fast ekstatisch

Jetzt tanzen auf dem Platz einige afrikanische Nonnen. Sie sind aufgedreht, übermütig, fast ekstatisch. Sie schreien vor Freude, tanzen im Kreis, halten sich an den Händen, rufen immer wieder einige Bibelsprüche in den Römer Himmel. Eine etwa 70-jährige Afrikanerin fällt mir um den Hals. Eine ältere Amerikanerin drängt sich durch die Menge und ruft immer wieder «fratelli e sorelle». Einige Nordländer stehen ergriffen mit geschlossenen Augen da; sie beten. Da und dort, in den verschiedenen Ecken des Petersplatzes erklingt jetzt Musik. 

Ich schaue zum Eurovisionsturm hinauf. Dort spricht und spricht jetzt die SRF-Frau. Was sie wohl alles sagt! Hoffentlich hat sie den richtigen Zettel erwischt. Unten auf dem Platz sagt mir ein Italiener aus Portici bei Neapel: «Jetzt endlich wird es besser. Jetzt endlich wird dieser erzkonservative Klerus weggefegt.» Auch eine Mexikanerin ist euphorisch: «Endlich ein Vertreter der Dritten Welt», sagt sie. Ein älterer Mann, der aus Spoleto angereist kam, erklärt, dass «nun zum Glück die Zeit des deutschen Ratzinger vorbei» sei. Benedikt XIV. war bei den Italienern wenig beliebt. Er galt als unnahbar, theoretisch, weltfremd, abgehoben. Das äussert sich auch darin, dass in den Römer Souvenirläden auch heute noch zwar Dutzende Postkarten und Andenken an den Polen Johannes Paul II. oder jetzt von Franziskus stehen – aber kaum ein Bild von Ratzinger.

«Eine neue Zeit bricht an», jubelt eine ältere Frau aus Viterbo. «Die Kirche schafft es jetzt endlich, das Mittelalter hinter sich zu lassen», sagt mir ein Franzose, der in Rom lebt. Viele Menschen umarmen sich, viele haben Tränen in den Augen: «Endlich Hoffnung, endlich Aufbruch.»

«Franziskus wird wenig erreichen» 

Nach zwei Stunden leert sich der Platz. Ich spreche mit einem älteren, sehr gepflegten deutschen Herrn. «Glauben sie wirklich, dass sich Franziskus durchsetzen kann?», fragt er mich. «Die vatikanischen Machtstrukturen sind derart gefestigt», sagt er, «die Kardinäle sind ein Bollwerk, sie wollen ihre Privilegien und ihre teuren Wohnungen nicht aufgeben.» Und er fügt bei: «Franziskus wird wenig erreichen.» 

Am späten Abend ist der Petersplatz fast leer. Nur Polizisten in Kampfmontur patrouillieren. Ich gehe mit einer bewegten Sonderkorrespondentin des Schweizer Fernsehens durch die leeren Strassen der Römer Innenstadt. Wir wollen noch etwas essen. Da kommt uns ein Zeitungsverkäufer entgegen: Sonderausgabe des «L’Osservatore Romano», der Vatikan-Zeitung: 

«Edizione straordinaria di mercoledi 13 marzo 2013: Annuntio vobis gaudium magnum HABEMUS PAPAM: Georgium Marium Bergoglio qui sibi nomen imposuit Franciscum.»

Die Zeitung wurde um 2O.30 Uhr gedruckt. Die vatikanischen Medien arbeiten schnell. 

Osservatore Romano
(Bild: J21)

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