1798 marschieren Napoleons Revolutionstruppen in die Schweiz ein. Die morsch gewordene Alte Eidgenossenschaft bricht zusammen, die Vogteien kommen frei. 225 Jahre sind es her. Historische Impressionen aus dem «Kleinstaat im Kleinstaat», Zug.
«Ein Tag wie ein Jahrhundert», urteilen erstaunte Zeitzeugen über den 14. Juli 1789. Der Schweizer Historiker Johannes von Müller preist ihn als «den schönsten Tag seit dem Untergang der römischen Weltherrschaft». Und in Deutschland wünscht sich der blutjunge Dichter Ludwig Tieck: «Oh, wenn ich izt ein Franzose wär!»
Untergang der alten Schweiz
Die Französische Revolution erscheint vielen wie ein tektonisches Beben, wie ein Vulkanausbruch. Der symbolträchtige Sturm auf die Bastille wirkt als Fanal, der rebellische Ruf von «Liberté, Égalité, Fraternité»bringt morsch Gewordenes zum jähen Einsturz. Die revolutionäre Lava des politischen Umbruchs wälzt sich über den ganzen Kontinent.
Sie überströmt auch die Alte Eidgenossenschaft. Der Widerstand ist gering, Napoleons Armeen haben relativ leichtes Spiel. Ende Januar 1798 dankt das Luzerner Patriziat ab, Anfang März kapituliert die reiche und mächtige Stadt Bern, und am 12. April proklamieren in Aarau zehn Kantone die «eine und unteilbare Helvetische Republik».
Das vielschichtige Bundesgeflecht souveräner Staaten weicht einem Zentralstaat à la française. Metaphorisch gesprochen: Aus der Traube wird ein Apfel.
Zug als «Kleinstaat im Kleinstaat»
Die Alte Eidgenossenschaft ist ein labiles föderales Konstrukt von 13 Ameisenhaufen. Zudem umfasst das komplexe Bündnissystem von Stadt- und Landorten ein Dutzend Zugewandte Orte wie Genf oder die «altfrye Republik Gersau». Dazu kommen die Gemeinen Herrschaften. Zu diesen gemeinsamen Vogteien zählen beispielsweise der Thurgau, die Grafschaft Baden oder die Untertanengebiete im Tessin. Auch die Einzelstaaten kennen Vogteien; so gehören das Waadtland und Teile des Aargaus den Bernern, Werdenberg den Glarnern und die Leventina den Urnern.
Der Stand Zug als «Kleinstaat im Kleinstaat» widerspiegelt dieses institutionelle Patchwork. So schreibt der Basler Historiker-Journalist Fritz René Allemann in seinem noch heute lesenswerten Buch «25-mal die Schweiz». (1) Auf seinem Mini-Territorium vereinigt Zug das stadtstaatliche und das ländlich-demokratische Prinzip. Es ist ein Staatenbund von vier freien Gemeinden, eine «Confoederatio» der Stadt Zug mit ihren Vogteien sowie der Gemeinden Ägeri, Menzingen und Baar. Die Landsgemeinde hält sie zusammen. Doch zwischen der Stadtgemeinde und den drei freien Landkommunen kommt es immer wieder zu Spannungen um die Vormacht. Fast wäre dieses Gebilde um 1600 zerbrochen – aus politischen Gründen und nicht aus religiösen wie in Appenzell. Ein eidgenössischer Schiedsspruch konnte die Trennung in zwei Halbkantone verhindern.
«Freie Leute befreit man nicht!»
Die bürgerlich-aristokratische Stadt Zug hat sich im Laufe der Zeit mehrere Untertanengebiete erworben. Es sind die sogenannten ennetseeischen Vogteien Cham, Hünenberg, Gangolfswil, das heutige Risch-Rotkreuz, dazu Walchwil und Steinhausen sowie Oberrüti an der Reuss. Die Zuger Stadtbehörden sind also gleichzeitig so etwas wie Staatsbehörden. Entsprechend regieren sie in paternalistischer Manier.
Die Zuger Obrigkeit verkennt denn auch die Zeichen der Zeit, die Dynamik der Parolen von «Liberté» und «Égalité» aus der revolutionären französischen Dreifaltigkeit. Frei fühlt man sich in den Landsgemeinde-Orten der Innerschweiz. Man braucht hier keine Freiheitsbäume. Und «freie Leute befreit man nicht!» Dass man selber Untertanen hat, geht dabei vergessen.
«die faust aufgehebt und sich bald frey gemacht»
Man kann und will in der Innerschweiz nicht begreifen, warum französische Truppen im Namen der Freiheit und der Menschenrechte in die Schweiz eindringen – in ein «freies» Land. Grund der vorgeblich befreienden Invasion ist ja wohl eher die Gier nach dem eidgenössischen Staatsvermögen und den «Millionen von Bern», wie Napoleon es ausdrückt und damit seinen Ägypten-Feldzug finanziert.
Der Abgang des Patriziats in Luzern leitet auch das Ende der Zuger Vogteien ein. Der Walchwiler Pfarrer schreibt: «Selbst Zug, die Herrscherstadt, sah ein, dass ihre vieljährige ‹Regiererei› unhaltbar, das ohnehin morsch gewordene Unterthanen-Verhältnis zum Fall reif geworden ist.» So schwören die Walchwiler bei der Vereidigung des letzten Stadtzuger Obervogts: «Haben ihme anstatt des eyds zu schwören, die faust aufgehebt und sich bald frey gemacht.» Mitte Februar 1798 erklärt die Stadt Zug ihre Untertanen angesichts der «wütenden Revolutions Zeit» von aller «über sie gehabten Herrschaft frey».
Einheitsverfassung oder Okkupation
Die neue Freiheit ist von kurzer Dauer, die Schweiz in Teilen ein besetztes Land und nicht mehr autonom. Noch stehen nicht alle Kantone hinter der neuen helvetischen Regierung in Aarau. Im April 1798 erlässt General Schauenburg, Kommandant der «Armée d’Hélvétie», eine unzweideutige Proklamation: Annahme der helvetischen Einheitsverfassung oder Okkupation durch französische Soldaten.
Verschiedene Orte verwerfen die Helvetische Verfassung. So verweigern die Stände Uri, Schwyz, Nidwalden, Zug und Glarus den Eid auf die neue Einheitsverfassung. Mitte April beschliesst die Zuger Landsgemeinde, die Franzosen «aufzusuchen, auch wenn sie 30 Stunden hinter Paris wären». Sie entscheidet sich damit für den Krieg. Man zieht los und stellt sich den Invasoren entgegen. Bei Hägglingen im heutigen Kanton Aargau kommt es zum Gefecht. Die Zuger können gegen die gut gerüsteten und kampferprobten französischen Soldaten wenig ausrichten und ziehen sich zurück. Die Stadt Zug kapituliert bedingungslos, öffnet die Tore und ergibt sich der französischen Militärmacht. Später wird der Eid auf die neue Verfassung abgelegt, auch wenn einige Zuger beim Eid statt «Ich schwöre» halt nur «Ich höre» gesagt haben sollen.
Inkubationszeit der modernen Schweiz
Die Franzosenzeit beginnt. Sie bringt Not und Elend. Am härtesten trifft es Nidwalden. Im September 1798 kämpfen 17’700 Franzosen gegen 1’600 Nidwaldner, ein Verhältnis von elf zu eins. Der Preis ist hoch. Rund hundert Franzosen und hundert Nidwaldner verlieren in den erbitterten Kämpfen ihr Leben. Bei grässlichen Massakern sterben dreihundert Frauen, Männer und Kinder; viele Kapellen, Häuser und Ställe werden zerstört. (2)
Doch die Zeit zwischen 1798 und 1803 bringt mehr als nur Mangel und Misere. Eine neue Zeit bricht an und eine alte Ära weg. Die Helvetik bleibt zwar ein unvollendeter Staat, militärisch besetzt, zeitweise Schlachtfeld Europas, als Vasall Frankreichs durch die fremde Soldateska und den damit verbundenen Tugendterror korrumpiert. Die Helvetische Republik ist organisatorisch überfordert, weil sie politisch alles auf einmal will. Wirtschaftlich versagt sie.
Aber: Sie ist der erste moderne Verfassungsstaat. Neben dem Chaos hinterlässt sie eine geistige Substanz. Sie schafft Freiräume zum Weiterdenken, initiiert Einmaliges wie die fundamentale Schulreform. Manche ihrer Prinzipien werden in der Bundesverfassung von 1848 und in den nachfolgenden Kantonsverfassungen zum geschriebenen Recht.
Mit der Helvetik beginnt die Inkubationszeit der modernen Schweiz.
(1) Fritz René Allemann (1965), Zug: Kleiner Kanton mit vielen Gesichtern. In: 25-mal die Schweiz. München: R. Piper & Co. Verlag, S. 64
(2) Vgl. https://blog.nationalmuseum.ch/2020/09/nidwalden-1798-erinnerung-ist-machbar/ (abgerufen am 2.3.2023)