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Debatte zu dritt

Ukrainekrieg: Wie sich die Gesellschaften der früheren «Brudervölker» entfremdet haben

30. September 2022
Tim Guldimann
Tim Guldimann
Debatte zu dritt

Mit Ina Ruck, der Leiterin des ARD-Büros in Moskau, und Alexander Hug, dem langjährigen Leiter der OSZE-Mission in der Ukraine, diskutiert Tim Guldimann als Hintergrund des Krieges das Auseinanderdriften der russischen und ukrainischen Gesellschaft in den letzten Jahren und dabei den wichtigsten Unterschied in der Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft.

«Vergleicht uns doch nicht immer mit Russland, wir wollen mit Polen verglichen werden, wir gehören nach Westen», so Ukrainische Gesprächspartner gegenüber Ina Ruck, die bekräftigt, dass die ukrainische Gesellschaft gar nicht so gespalten sei zwischen dem vermeintlich Russland-freundlichen Osten und dem Rest des Landes. Das hatte sie schon 2012 anlässlich der Fussball-Weltmeisterschaft im ostukrainischen Charkiw erlebt, wo die Massen mit blau-gelben Fahnen ihren Nationalismus zum Ausdruck brachten. Alexander Hug bestätigt das mit seiner Beobachtung, dass er im Osten auch nach fünf Jahren der von Separatisten kontrollierten Verwaltung keine «sichtbare und spürbare Spaltung» der Gesellschaft feststellen konnte. Die Menschen im Land, unabhängig von ihrer Muttersprache, ob Russisch oder Ukrainisch, fühlen sich als Ukrainer, heute mehr denn je.

Den wichtigsten Unterschied in der gesellschaftlichen Entwicklung beider Staaten machen die zwei Gesprächspartner darin fest, dass sich vor allem seit 2014 eine ukrainische Zivilgesellschaft herausgebildet hat, was sich darin zeigte, dass «sehr schnell im Herbst (2021) die Organisation der Selbstverteidigung begann. Man konnte sich einschreiben in eine Art Bürgerwehr-Selbstverteidigung. (…) Ich war dann sehr überrascht über die Sicherheit und Bestimmtheit, mit der die Leute es gemacht haben», so Ina Ruck. Die Bedeutung der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstreicht auch Hug: «Ich habe klar gesehen, dass obwohl die Vereidigungskapazität der Regierung anfangs sehr schwach war 2014, die Zivilgesellschaft schon damals sehr stark war. Die hat sich sofort organisiert.» Das habe sich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen gezeigt, unter anderem in der Pandemie, und «zwar so, dass Teile der Zivilgesellschaft eigentliche Staatsaufgaben übernommen haben». 

Stärkt oder schwächt der Krieg die rechtsstaatliche-demokratische Entwicklung des Landes? «Das grosse Risiko gerade und die grosse Unsicherheit» sei, so Ina Ruck «wie es nach dem Krieg weitergeht. (…) Es wird sicher ein völlig neues Land sein (…) und die Macht wird neu verteilt werden.» Die Oligarchen seien die grossen Verlierer im Moment. Alexander Hug ist heute noch optimistisch: «Im jetzigen Zeitpunkt wäre die Zivilgesellschaft stark genug, um eine Machtkonzentration abzufedern (und) mehr Mitsprache einzufordern in einer neuen Ukraine nach dem Krieg.»

In den 90er Jahren gab es in beiden Gesellschaften einen demokratischen Hoffnungsmoment, «aber die Russen haben es vergeigt, die Gesellschaft war nicht stark genug, um sich gegen die immer autoritäreren Gesellschaftstendenzen zu wehren.(…) Man denkt jedes Jahr, schlimmer wird es nicht, aber es wird immer schlimmer», sagt Ina Ruck. Heute sei die Mehrheit der Leute für den Krieg, es gebe das Gefühl: «Wir sind die Herrscher eines grossen Reichs und wir wollen dieses Reich zurück.» 

Gibt es Hoffnungen auf einen Waffenstillstand? Ina Ruck: «Ich sehe auf beiden Seiten das Interesse nicht», Selenski und Putin stehen unter Druck, «Putin kann sich einen Waffenstillstand gar nicht leisten, der Druck von rechts ist gerade sehr gross.» – Damit ist Pessimismus angesagt. 

 

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Journal 21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.

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