Wie haben wir als junge Menschen Israel bewundert. Unter schwierigsten Bedingungen entstand da eine neue Nation. Wir bestaunten die Fähigkeit, in einer feindlichen Umgebung einen funktionierenden Staat aufzubauen. Endlich, endlich hatten die seit zwei Jahrtausenden verfolgten Juden eine sichere Bleibe.
Alle lasen Leon Uris «Exodus». Der Roman war 1958 erschienen und erzählt die Entstehungsgeschichte Israels. Nein, wir lasen diesen Roman nicht: Wir verschlangen ihn. In unserer Schule mitten in Zürich wurde eine Israel-Fahne aufgehängt.
Und die abenteuerliche Festnahme von Adolf Eichmann in Buenos Aires im Mai 1960. Ein Glanzstück des geheimnisvollen Geheimdienstes «Mossad». Das kann nur Israel, hiess es. Die Hinrichtung Eichmanns im Juni 1962 verfolgten wir mit Genugtuung.
Oder Golda Meir: Sie wurde 1969 zur ersten Regierungschefin der Welt bestimmt – und dies in einer Zeit, in der die Schweizerinnen noch nicht einmal stimmberechtigt waren.
Die blühende Wüste
Einige von uns flogen schon früh nach Israel, arbeiteten für einige Wochen in den Kibbuzim und waren begeistert von dieser neuen Form des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Wie hiess es: «Israel hat die Wüste zum Erblühen gebracht.»
Bewundert wurde Israels militärische Effizienz. Trotz mehrerer Kriege und ständiger Bedrohung hat das Land eine Hightech-Armee auf die Beine gestellt, die in der ganzen Welt hoch angesehen ist.
Zugegeben, die Bewunderung für den neuen Staat war mit zahlreichen Klischees behaftet. Und das Mitempfinden für das schreckliche Leiden, das dem jüdischen Volk nicht erst im Holocaust angetan wurde, spielte auch eine wichtige Rolle. Natürlich gab es auch die Kehrseite. Längst nicht alle Judenhasser und Antisemiten waren verschwunden oder geläutert.
Und jetzt?
Am 7. Oktober 2023 beging die Terrororganisation Hamas eines der schrecklichsten Verbrechen der Nachkriegsgeschichte. Israel wurde überrumpelt. Trotz einzelner Warnungen verschliefen sowohl der Geheimdienst als auch der Ministerpräsident und seine Regierung das sich abzeichnende Verbrechen. 1200 Menschen starben, 251 wurden als Geiseln genommen. 148 wurden lebend zurückgebracht, 56 Geiseln wurden repatriiert, 50 sind noch immer in Gefangenschaft, über die Hälfte von ihnen gilt als tot.
Natürlich hatte Israel das Recht, zurückzuschlagen und sich zu rächen. Das gelang. Die wichtigsten Hamas-Führer und vermutlich Hunderte Hamas-Kämpfer wurden getötet.
Doch Israel begnügte sich nicht damit. In einem beispiellosen Rachefeldzug wurden bisher fast 60’000 Menschen im Gazastreifen getötet, auch Frauen, Kinder, Männer, die nichts mit Hamas zu tun hatten. Und das Morden geht weiter. Und noch immer ist es der Hightech-Armee nicht gelungen, die restlichen Geiseln aufzuspüren.
Bilder aus dem Gazastreifen
Die Bilder aus dem Gazastreifen haben die Weltöffentlichkeit und die meisten Regierungen aufgerüttelt. Da stehen hungernde Menschen an Ausgabestellen und werden bombardiert und beschossen, und zwar fast täglich. Frauen, Kinder, alte Menschen sterben, ganze Familien werden ausgerottet, Spitäler werden bombardiert. Viele sagen: Nein, Israel, so dann doch nicht.
Die israelische Armee macht nicht halt vor der Bevölkerung des Gazastreifens. Mehrmals tötete sie auch Hilfspersonal humanitärer Organisationen. So wurde am 1. April 2024 ein Konvoi der Hilfsorganisation «World Central Kitchen» mit israelischen Drohnen beschossen. Dies, obwohl die Fahrzeuge klar mit dem Rotkreuz-Zeichen gekennzeichnet waren. Sieben Mitarbeiter der Organisation starben, ein kanadisch-amerikanischer Doppelbürger, drei Briten, eine Australierin, ein Pole und ein Palästinenser. Der lapidare und arrogante Kommentar von Netanjahu lautete: «Solche Dinge geschehen eben im Krieg.»
Die israelische Regierung und die Israel-Lobby versuchen, die Angriffe auf die hilflosen Menschen im Gazastreifen zu rechtfertigen – und sie in Abrede zu stellen. Alles sei Propaganda der Hamas. Bilder würden gefälscht, die Not würde aufgebauscht. Vielleicht stimmt das zu einem ganz kleinen Teil. Aber das Wüten der Israeli ist dokumentiert. Man kann einige Bilder fälschen, aber zehntausende nicht, und auch nicht stundenlanges Filmmaterial, das täglich von internationalen Nachrichtenagenturen gedreht wird. Sogar Trump sagte: Solche Bilder kann man nicht fälschen. Auch wir erhalten fast täglich Bilder von getöteten Palästinensern.
Alles nur «antisemitisch»?
Die Israel-Lobby dementiert tapfer, aber ihr Einfluss war noch nie so gering wie jetzt. Und natürlich, das ist klassisch: Wer Israel kritisiert, wird reflexartig und pauschal als «antisemitisch» bezeichnet. Doch das ist zu billig, da machen es sich die Lobbyisten zu einfach.
Natürlich gibt es einen schrecklichen Antisemitismus. Und der wächst. Doch andererseits: Viele, viele, auch sehr moderate Menschen, kritisieren heute die israelische Regierung. Und sie sind sicher nicht antisemitisch. Ist es antisemitisch, wenn man beklagt, dass unschuldige Palästinenser und Palästinenserinnen hungern müssen, ins Elend getrieben werden und an Ausgabestellen für Lebensmittel oder Wasser abgeknallt werden?
Schon wird da und dort der Ausdruck «Genozid» verwendet – ein harter Vorwurf. Viele kritisieren, dass dadurch die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg relativiert werden. Liliana Segre, die heute 94-jährige Holocaust-Überlebende und eine der wichtigsten moralischen Instanzen in Italien und harte Kritikerin der israelischen Politik, wehrt sich dagegen, dass dieser Begriff verwendet wird. In einem viel beachteten Interview mit der Römer Zeitung «La Repubblica» sagte sie letzte Woche, der Begriff sei «rachsüchtig». «Damit schüttelt man die historische Verantwortung Europas ab und erfindet eine Art sinnlosen Gegenschlag, indem man die Schuld des heutigen Israels, das als neuer Nationalsozialismus dargestellt wird, auf die Opfer des Nationalsozialismus abwälzt.» Man spüre deutlich «antisemitische Gefühle», einen «antisemitischen Unterton».
Rechtsextreme, ultrareligiöse, rassistische Minister
Die Jüdin Liliana Segre sagt in dem Interview: «Israel war eine Antwort auf die Shoah: der Zufluchtsstaat, der die Erfüllung des Schwurs ‹Nie wieder› garantieren sollte. Das Trauma, das die Israelis am 7. Oktober erlitten haben, kann man nur verstehen, wenn man sich darüber im Klaren ist: Es war der Schock, erneut mitanzusehen, wie Frauen, alte Menschen und Kinder Haus für Haus ermordet und entführt wurden, und zwar genau in diesem Zufluchtsort, der gebaut worden war, damit so etwas nie wieder passieren kann.»
Einige sind der Ansicht, dass die israelische Politik, der Beschuss von Hilfesuchenden und die Weigerung, Hilfsgüter im grossen Stil in den Gazastreifen einzulassen, zumindest «quasi-genozidiale» Züge tragen. Andere verwenden den Begriff «genozidähnlich». Die Diskussion, ob sich Israel eines Genozids schuldig mache, wird noch lange andauern. Genährt werden die Genozid-Vorwürfe auch durch die Rhetorik einiger rechtsextremer, ultrareligiöser, rassistischer israelischer Minister.
Der israelische Finanzminister Bezalel Joel Smotrich verwendet ein Vokabular, das zumindest auf «Genozidiales» hindeutet. Er spricht von der «totalen Vernichtung» oder der «Zerstörung» ganzer Städte im Gazastreifen, so Rafah, Deiur al-Balah oder Nuseirat. Er forderte die «totale Vernichtung» oder «Annihilation» dieser Städte. Im vergangenen Mai erklärte er, dass Gaza «vollständig zerstört» werden müsse und dass seine Bevölkerung zur Emigration gezwungen werden müsse. Internationale Beobachter werteten dies als Aufruf zu einer «ethnischen Säuberung».
Atombombe auf Gaza?
Amichai Eliyahu, der rechtsextreme Minister für kulturelles und religiöses Erbe, ging noch weiter. In einem Radiointerview spielte er am 1. November 2023 mit dem Gedanken, eine Atombombe auf den Gazastreifen abzuwerfen. Netanjahu distanzierte sich sofort von dieser Äusserung.
Itamar Ben-Gvir, der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, hat sich nicht ausdrücklich für eine physische Vernichtung der Palästinenser ausgesprochen. Er forderte aber eine «massenhafte Umsiedlung» oder «Vertreibung» der Palästinenser aus dem Gazastreifen. Er sprach sich dafür aus, dass jüdische Siedlungen im Gazastreifen wieder errichtet werden sollten, verbunden mit dem Ziel, Palästinenser aus dem Gebiet zu vertreiben. Menschenrechtsbeobachter kritisierten solche Äusserungen scharf und sprachen von angestrebter «ethnischer Säuberung» und einem Verstoss gegen internationales Recht.
Ben-Gvier, Eliyahu und Smotrich sind nicht irgendwelche dahergelaufene Fanatiker, das sind Minister in der israelischen Regierung mit riesigem Einfluss.
Palästinenserstaat?
Joel Smotrich verneint die Existenz eines palästinensischen Volkes. Es gebe deshalb keinen Grund, einen palästinensischen Staat zu errichten. Smotrich kämpft für ein «biblisches Grossisrael». Hohe jüdische Führungspersönlichkeiten in den USA (darunter Peter Alter, Lawrence Bender, Lester Crown, Dan Glickman, Steve Grossman, Mel Levine, Richard Ravitch und Barry Schwartz) bezeichneten in einer gemeinsamen Erklärung Smotrich als «rassistisch» und «homophob».
Immer mehr sehen auch jüdische Kreise die Lösung des Nahostproblems nur in der Errichtung des Palästinenserstaates. Der «Repubblica» sagte Liliana Segre: «Ich war schon immer für ‹zwei Völker, zwei Staaten›. Die von Präsident Macron genannten Bedingungen sind weitsichtig und würden, wenn sie umgesetzt würden, ein friedliches Zusammenleben der beiden Staaten nebeneinander gewährleisten, nicht einen anstelle des anderen.»
Die Erklärung Macrons, im nächsten Monat einen Palästinenserstaat anzuerkennen, hat da und dort Schleusen geöffnet und Israel unter noch mehr Druck gesetzt. Immer mehr Staaten spielen mit der Möglichkeit einer Anerkennung eines palästinensischen Staates. Das hat sich Israel mit seinem exzessiven Rachefeldzug eingebrockt.
Israel hat viele seiner Freunde verloren
Der Wind hat gedreht. Israel macht zur Zeit nicht ganz alles, aber vieles falsch. Zwar hat es die Hamas zerstört. Doch den Hass, den es mit seinem Racherausch entfacht hat, wird es früher oder später zu spüren bekommen. Glaubt Netanjahu wirklich, er könnte auf diese Art das Nahostproblem längerfristig lösen?
Doch das Schlimmste für Israel ist, es hat mit seinem Rachefeldzug viele seiner Freunde verloren. Und Freunde bräuchte es gerade jetzt dringend. Auch Menschen und Regierungen, die dem Staat durchaus gewogen und wohlwollend gesinnt waren, auch Schweizerinnen und Schweizer, schütteln mehr als den Kopf. International steht das Land heute am Pranger wie ausser Russland kein Staat. Was ist in diese israelische Regierung gefahren!
Das Image von Israel ist im Keller. Israel hat einen katastrophalen Reputationsverlust erlitten, und Ministerpräsident Netanjahu arbeitet jeden Tag daran, dass alles noch schlimmer wird.
«Es ist für mich herzzerrreissend»
Auch in jüdischen und israelischen Kreisen wächst die Kritik an der israelischen Führung. Ruth Dreifuss, die jüdische Ex-Bundesrätin, erklärte, sie halte die Bilder aus dem Gazastreifen nicht mehr aus. Und Liliana Segre, die Holocaust-Überlebende, spricht in der «Repubblica» von «grenzenloser Bitterkeit über das, was ich in den Fernsehnachrichten sehe». Es sei für sie «wirklich herzzerreissend, Israel in einem solchen Grauen versinken zu sehen, mit einigen fanatischen Ministern, die mit hervorquellenden Augen virulente Unmenschlichkeit verkünden, oder mit Gruppen von Siedlern, die schändliche Schlägertrupp-Aktionen gegen wehrlose Palästinenser im Westjordanland verüben.»
Es wäre zu wünschen, dass Israel wieder ein starker Staat würde und den teils mittelalterlich geprägten Nahen Osten, in dem Frauen noch immer in Säcke gesteckt werden, beeinflussen und modernisieren würde. Der Nahe Osten bräuchte ein modernes, menschliches Israel. Netanjahu und seine rechtsextremen, rassistischen Minister braucht niemand.
Israel ist es vorläufig gelungen, den Kern der Hamas zu zerstören. Aber: Man könnte es zynisch sagen: Die Hamas hat mit ihrem Terrorangriff am 7. Oktober dem jüdischen Staat einen bitteren Schlag verpasst und etwas Entscheidendes erreicht: Israel ist isoliert wie nie zuvor. Das wird das Land noch Jahre belasten.