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78. Filmfestival Cannes

Starker Abschluss mit politischen Akzenten

24. Mai 2025 , Cannes
Patrick Straumann
Patrick Straumann
Jafar Panahi Goldene Palme
Der iranische Filmemacher Jafar Panahi erhält die Goldene Palme für «Un simple accident» von Jurypräsidentin Juliette Binoche (R) und Cate Blanchett (L). (Keystone/EPA, Clemens Bilan)

Nach einer qualitativ soliden zweiten Woche hat das Filmfestival von Cannes mit der am Samstagabend erfolgten Preisverleihung ein Ende gefunden. Überraschend viele Produktionen wandten sich der Vergangenheit und der Bewältigung von Traumata zu. 

«Alpha» etwa von Julia Ducournau ist eine Inszenierung, die man leicht als unbequem umschreiben kann. Die Regisseurin, die mit «Titane», ihrer letzten Produktion, eine Goldene Palme davontragen konnte, kommt hier ausdrucksstark auf die Verwüstungen zurück, die in den Achtzigerjahren vom Aids-Virus verursacht wurden, wobei sie, dem Horror-Genre weiterhin treubleibend, den Zerstörungsprozess, der von der Infektion initiiert wird, metaphorisch beschreibt: die Kranken atmen im Endstadium Rauch aus, die Körper verwandeln sich vor ihrer Kamera in Marmorstatuen.

Nachdem diese Bildsprache mit fortschreitender Handlung an Schockwirkung verliert, tritt die Hauptfigur in den Fokus, die Mutter der Heranwachsenden Alpha, die sich als Ärztin (Golshifteh Farahani) mit grenzenloser Hingebung sowohl um ihre mutmasslich infizierte Tochter als auch um ihren heroinsüchtigen Bruder (Tahar Rahim) kümmert. Die Wucht, mit der sich die soziale Ausgrenzung manifestiert, ist zweifellos das Nebenthema dieser Parabel – wenn sich Alpha im Schwimmbad den Kopf wundschlägt und das Wasser sich rötet, zeigt eine Weitwinkelaufnahme, wie die Badenden das Becken fluchtartig verlassen. Das Bild erinnert an die Panik, die der Hai einst in «Jaws» zu provozieren vermochte.

Existenzielle Schwindelgefühle

Erstaunlicherweise hatten gleich zwei weitere Produktionen die Erinnerung an das HIV auf die Leinwand geholt. Während der chilenische Beitrag «La misteriosa mirada del flamenco» von Diego Céspedes seine «Pestepidemie» in einer chilenischen Minenstadt verortete, rekapituliert die Spanierin Carla Simón in «Romería» ihre eigene Familiengeschichte. Die Kamera folgt der angehenden Filmstudentin Marina, die sich anfangs der 2000er Jahre achtzehnjährig in die galizische Küstenstadt Vigo begibt, um die Familie ihres verstorbenen Vaters Alfonso aufzusuchen. Die Reise hat allerdings auch konkrete Gründe: Das Schamgefühl, das Alfonsos Aidserkrankung in den achtziger Jahren auslöste, sass derart tief, dass die Geburt Marinas nie dem Zivilstandsamt gemeldet wurde.

Mit einer Videokamera filmt sie das Hochhaus, in dem ihre Eltern vor ihrer Geburt gelebt haben – später, in einer Traumsequenz, wird sie die Fassade hochklettern und sich neben das Paar auf die Dachterrasse setzen. Die Tagebucheinträge der Mutter, in deren visueller Umsetzung insbesondere die Heroinsucht in frontalen Bildern zum Ausdruck kommt, erlauben es der Inszenierung, den Übergang zwischen den Zeitebenen fliessend zu halten. Nabokov hatte einst das Schwindelgefühl beschrieben, das einen angesichts einer Welt, in der wir noch abwesend sind, erfassen kann. Für Simón war diese Inkursion in ihre Vorvergangenheit sichtlich der Auslöser ihrer Cineasten-Karriere.

Mit Neugierde wurde auch die jüngste Arbeit der Schottin Lynne Ramsay erwartet, deren letzte Produktion mittlerweile acht Jahre zurückliegt. «Die My Love» ist eine Adaptation des gleichnamigen Romans der argentinischen Schriftstellerin Ariana Harwicz, in dem auf knapp zweihundert Seiten ein Paar einem unaufhaltsamen (Selbst-)Zersetzungsprozess unterworfen wird. In Ramsays Umsetzung sind die Protagonisten von Jennifer Lawrence und Robert Pattinson gespielt; Sissy Spacek und Nick Nolte bemühen sich, den Nebenrollen Leben einzuhauchen. Die überfrachtete Tonspur – selten war man einem derart nerventötenden Hundegebell ausgesetzt – und die letztlich unscharfe Zeichnung der psychologischen Konturen der weiblichen Hauptfigur lassen einen jedoch trotz ihrer Exzesse (und Lawrences imposanter Darbietung) zunehmend gleichgültig.

Henker, Opfer und Rache

Jafar Panahis «Un simple accident» wird wohl einen Bruchteil von Ramsays Produktionsetat gekostet haben: Der Inszenierung ist die Improvisation an allen Ecken und Enden anzusehen. Der nahezu dokumentarische Stil verleiht ihr paradoxerweise allerdings auch ihre originäre Kraft. Der Regisseur der wunderbaren «The Circle» und «3 Faces», der sich trotz allen politischen Drucks bislang noch nicht zur Flucht aus Iran entscheiden konnte (das Regime hatte ihn unter anderem zu zwanzig Jahren Drehverbot und sechs Jahre Gefängnis verurteilt, von denen er sieben Monate abgesessen hat), verschrieb sich offensichtlich auch in dieser jüngsten Produktion dem Versuch, die Grenzen seiner filmischen Bewegungsfreiheit zu testen.

«Un simple accident» handelt von Henkern, Opfern und deren Verlangen nach Rache. Als Vahid, der infolge des besagten «einfachen Unfalls» glaubt, seinen ehemaligen Peiniger zu erkennen (eine Autopanne provoziert die Begegnung der beiden Protagonisten), kidnappt er den Mann kurzerhand. Allerdings hegt er alsbald Zweifel bezüglich dessen Identität und hält seine Hand zurück: Darf er seinen Gefangenen umbringen, auch auf die Gefahr hin, einen unschuldigen Familienvater zu töten?

Um die Identität des Entführten zu klären, holt Vahid die Meinung seiner Leidensgenossen ein – insbesondere die junge Frau, die er beim Hochzeitsshooting unterbricht, liefert der Inszenierung ihre skurrilsten Momente. Solange die Frage in der Schwebe bleibt, behält auch das moralische Dilemma seine universelle Dimension (und, dank dem in der Wüste bereits ausgehobenen Grab, seine Beckett’sche Färbung). Bedauernswert ist die letzte Wende des Drehbuchs, die die Handlung auf eine individuelle Gewissensfrage reduziert. 

Entfremdung und Wahlverwandtschaft

Elegant inszeniert – und hervorragend von Stellan Skarsgård und Renate Reinsve gespielt – ist wiederum «Sentimental Value» von Joachim Trier. Die agile Erzählung stellt einen narzisstischen Vater seiner emotional vernachlässigten Tochter gegenüber. Er ist ein Art-House-Filmemacher, der sein Familienleben auf die Leinwand hieven will; sie, die erfolgreiche Schauspielerin, soll im Drama den weiblichen Hauptpart übernehmen. In ihrer beharrlichen Weigerung, mit ihrem Erzeuger zusammenzuarbeiten, zeichnet sich nach und nach die Tiefe der Entfremdung ab. Mit seiner Schlussszene, die eine familiäre Versöhnung durch die Kunst suggeriert, hat Trier dem Wettbewerb das vielleicht konsensfähigste Finale beschert.

Überragt wurde der Wettbewerb jedoch von Kleber Mendonça Filhos «O agente secreto», der in der brasilianischen Küstenstadt Recife angesiedelt ist und (grösstenteils) Ende der Siebzigerjahre spielt. Mittels einer virtuosen Regieführung und einem ausufernden Drehbuch gelingt es dem Regisseur, mäandernde Handlungsstränge auszulegen, die sich vor dem Hintergrund der Militärdiktatur verflechten und ein nuanciertes Bild der nationalen Befindlichkeiten entfalten. Selten war im jüngeren lateinamerikanischen Filmschaffen ein derart ambitiöses Projekt zu sehen. «O agente secreto» illustriert die enthemmte Straflosigkeit vor dem Hintergrund des Karnevals, stellt den Gewaltexplosionen Wahlverwandtschaften gegenüber, baut auf ein barockes Figurenpanorama und zeichnet zugleich ein Selbstportrait.

Wie ein Thriller ist die Eingangsszene inszeniert: Marcelo (Wagner Moura) hält an einer Tankstelle im Hinterland, wo er einen mit Karton bedeckten und von streunenden Hunden umgebenen Kadaver vorfindet. Der Mann sei während eines versuchten Überfalls erschossen worden, erfährt er vom Tankwart, doch als die Polizei eintrifft, schenken die Beamten dem Toten keinen Blick und versuchen stattdessen, Marcelo zu einer Gabe für die polizeiliche «Karnevalskasse» zu überreden. 

Fragilität des sozialen Gefüges

Später wird sich die Bedrohung, die auf dem Protagonisten lastet, präzisieren und konkrete Züge annehmen: Ghirotti, ein korrupter Industrieller mit Beziehungen zum Militärregime, will das Forschungsprogramm, das Marcelo an der lokalen Universität leitet, in den reichen Südosten Brasiliens umleiten; bald kommen Auftragskiller ins Spiel, was Marcelo wiederum von der Notwendigkeit überzeugt, sich und seinem zehnjährigen Sohn falsche Pässe zu beschaffen, um ins Ausland flüchten zu können. 

Getragen von einer Figurengalerie, die in ihrer Breite an Robert Altman erinnert, gelingt es der Regie, den Plot sowohl nach innen als auch nach aussen ausufern zu lassen: Über Marcelos Schwiegervater, der als Vorführer in einem Kino von Recife arbeitet, schafft «O agente secreto» Bezüge zu «Retratos fantasmas», Mendonça Filhos vorherigem Film, der der einst üppigen Kinolandschaft der Provinzmetropole eine Hommage erwiesen hatte. 

Zugleich – und darin liegt zweifellos die diskrete Aktualität der Inszenierung – legt Mendonça Filho auch die Fragilität des sozialen Gefüges offen. Wie kann eine Gesellschaft einer alles zerstörenden Gewalt widerstehen? In einer Vorausblende, die in der Gegenwart spielt, sucht Flavia, eine junge Historikerin, die sich für die bleiernen Jahre Brasiliens interessiert, Marcelos Sohn Fernando auf (ebenfalls Wagner Moura), der, bereits etwas angegraut, als Arzt in einer Blutbank arbeitet.

Helfen kann er ihr jedoch nicht. Seinen Vater habe er kaum gekannt (über einen Zeitungsausschnitt erfahren wir, dass Marcelo von den Killern erschossen wurde), von den Grosseltern fehlt selbst in den Geburtsregistern jede Spur. Was tun, wenn man sich in einer Sackgasse befindet? Flavia hat die Antwort: Sie setzt sich in den Sessel und spendet Blut.

 

Preisverleihung 

Unter der Leitung von Juliette Binoche hat die Jury des 78. Filmfestivals von Cannes – der neben den Schauspielerinnen Halle Berry und Alba Rohrwacher auch die Schriftstellerin Leila Slimani und die Regisseure Carlos Reygadas und Payal Kapadia angehörten – die folgenden Preise verliehen:

  • Goldene Palme: Jafar Panahi für «It was just an accident»
  • Grosser Preis: Joachim Trier für «Sentimental Value»
  • Jurypreis: (ex æquo) Oliver Laxe für «Sirat» und Mascha Schilinski für «Sound of Falling»
  • Regiepreis: Kleber Mendonça für «O agente secreto»
  • Weiblicher Darstellerpreis: Nadia Melliti für «La petite dernière» von Hafsia Herzi
  • Männlicher Darstellerpreis: Wagner Moura für «O agente secreto» von Kleber Mendonça Filho
  • Drehbuchpreis: «Jeunes mères» von Jean-Pierre und Luc Dardenne
  • Spezialpreis: «Resurrection» von Bi Gan
  • Caméra d’Or (für die beste Erstinszenierung): «The President’s Cake» von Hasan Hadi
  • Ehrenpalme: Robert De Niro und Denzel Washington

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