Mariupol, die in Trümmern liegende Stadt am Schwarzen Meer, steht vor dem Fall. Um den letzten Widerstand zu besiegen, wollen die pro-russischen Truppen jetzt chemische Waffen einsetzen. Die ukrainischen Verteidiger hätten sich in unterirdischen Befestigungen eingegraben, sagte ein pro-russischer Kommandant. Um «die Maulwürfe aus ihren Löchern zu vertreiben», wende man sich jetzt an die «chemischen Truppen».
Eduard Basurin, ein Kommandant der pro-russischen Truppen, sagte am Montagabend in einem Interview mit dem russischen Fernsehen, die letzten ukrainischen Verteidiger hätten sich in unterirdischen Befestigungen in einem Stahlwerk in Mariupol verschanzt. Es mache keinen Sinn, diesen Rückzugsort zu stürmen, sagte er. Die russischen Streitkräfte müssten jetzt die Ausgänge blockieren, «und sich dann den chemischen Truppen zuwenden». Sie würden einen Weg finden, «die Maulwürfe aus ihren Löchern zu vertreiben».
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj sagte dazu, die russischen Streitkräfte bereiteten sich auf eine «neue Phase des Terrors gegen die Ukraine» vor. In Mariupol, «dem Schauplatz der grössten Zerstörungen dieses Krieges», seien «Zehntausende Tote» zu beklagen.
Der Donezker Separatistenführer Denis Puschilin hatte am Montag erklärt, seine pro-russischen Separatisten hätten die Kontrolle über den Hafen der Stadt übernommen. Bereits zuvor hatten pro-russische Verbände das Stadtzentrum besetzt.
Die Stadt, die einst 440’000 Einwohner zählte, war zum Symbol der Schrecken dieses Krieges geworden. In die Schlagzeilen gerieten vor allem der russische Beschuss einer Gebärklinik und die Bombardierung eines Theaters, in dessen Trümmern über 300 Tote gefunden wurden.
«Alle Infanteristen sind tot»
Fast sieben Wochen lang hatten sich die ukrainischen Kämpfer heldenhaft gegen die russischen Kräfte gewehrt. Der Fall von Mariupol ist ein schwerer psychologischer Schlag für die Ukraine.
Die 36. Marinebrigade der ukrainischen Armee erklärte über Facebook am Montag: «Heute wird wahrscheinlich die letzte Schlacht sein, da die Munition zur Neige geht.» Die ukrainischen Verteidiger seien von den Russen zurückgedrängt und umzingelt worden. «Alle Infanteristen sind getötet worden und die Feuergefechte übernehmen jetzt Artilleristen, Flugabwehrkanoniere, Funker, Fahrer und Köche. Sogar das Orchester.»
Die Eroberung werde «den Tod für einige von uns und Gefangenschaft für den Rest» bedeuten, erklärten eingekesselte Soldaten.
«Apokalyptische Zustände»
Mariupol hat strategische Bedeutung. Die Stadt liegt zwischen der von Russland annektierten Halbinsel Krim und den pro-russischen Separatisten-Gebieten im Donbass. Russland versucht, diese beiden Gebiete miteinander zu verbinden.
In der Stadt hatten «apokalyptische Zustände» geherrscht, hatten Hilfsorganisationen erklärt. Viele der Toten mussten in Massengräbern beigesetzt werden. Es fehlte an Strom, frischem Wasser, Medikamenten und Nahrungsmitteln. Die Russen weigerten sich, Hilfstransporte in die Stadt kommen zu lassen. Konvois mit Hilfsgütern wurden immer wieder beschossen.
Hilfsorganisationen hatten schon vor drei Wochen von «wahrscheinlich mehr als zehntausend Toten» gesprochen. Diese Zahl könnte nach Schätzung von Hilfsorganisationen jetzt weit höher liegen.
Russischer Grossaufmarsch
Ukrainische Beamte erwarten schon für die nächsten Tage einen russischen Grossangriff auf die östliche Ukraine. Zehntausende Soldaten würden zusammengezogen. Es seien zum Teil neue Verbände, die aus Russland kommen, und zum Teil Einheiten, die in Belarus stationiert waren. Satellitenbilder zeigen Hunderte russischer Militärfahrzeuge und Panzer, die sich Richtung Osten bewegen. Das britische Verteidigungsministerium erwartet in seinem täglichen Update «verschärfte Kämpfe». Die Russen würden erneut in Richtung Kramatorsk vordringen, wo letzte Woche bei einem Angriff auf den Bahnhof 51 Menschen starben.
Vergewaltigungen
Die Uno verfügt über Berichte, wonach russische Soldaten immer mehr ukrainische Frauen vergewaltigen würden. Die amerikanische Uno-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield sagte vor dem Uno-Sicherheitsrat: «Wenn Männer wie Wladimir Putin Kriege beginnen, werden Frauen vergewaltigt und getötet.»
Putin trifft Lukaschenko
Die beiden Präsidenten wollen am Dienstag in der russischen Amur-Region zusammenkommen. Lukaschenko möchte in die Friedensverhandlungen zwischen einer ukrainischen und russischen Delegation einbezogen werden. Belarus ist ein Aufmarschgebiet für russische Truppen.