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Über die Kluft in der russischen Gesellschaft

8. März 2022
Bild St.P.
Festnahme einer Demonstrantin in St. Petersburg. Am Sonntag haben in der Stadt grössere Menschenansammlungen gegen den Ukraine-Krieg protestiert. Ein starkes Aufgebot von Sicherheitskräften soll über tausend Personen verhaftet haben. (Foto: Keystone/EPA/Anatoly Maltsev)

In einem Kommentar äussert sich Boris Wischnewski, ein Mitglied des Stadtparlaments von St. Petersburg, pessimistisch über das Meinungsbild in der russischen Gesellschaft zum Ukraine-Krieg. Die meisten Menschen glaubten der vom Fernsehen verbreiteten Propaganda des Putin-Regimes. Und es sei nahezu aussichtslos, diesen Menschen gegenüber auch nur «einen Schatten des Zweifels» an der offiziellen Version geltend zu machen. Wischnewskis Kommentar ist in der «Nowaya Gazeta» vom 8. März erschienen. Die Zeitung ist eines der letzten kritischen Medien in Russland, die noch nicht geschlossen wurden. 

Wie alle Medien darf die Zeitung nicht über den «Krieg» in der Ukraine schreiben, nur die Formulierung «militärische Spezialoperation» ist erlaubt. Der Chefredaktor der «Nowaja Gaseta», Dmitri Muratow, ist im vergangenen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.

Hier der Kommentar von Boris Wischnewski in deutscher Übersetzung:

"Über die Kluft in der russischen Gesellschaft"

«Ich stimme Leonid Gozman zu: Die mit Nägeln die Autos zerkratzen, haben jetzt gespürt, dass ihre Stunde gekommen ist.» Und dass sich die Behörden auf sie stützen – auf die dunkelsten, am wenigsten gebildeten, aggressivsten Schichten der Gesellschaft.

Aber erstens passiert das nicht erst jetzt – diese Art von Abhängigkeit ist schon seit langem zu beobachten.

Zweitens verlassen sich die Behörden nicht nur auf diejenigen, die die Autos mit Nägeln zerkratzen, sondern auf viel breitere Schichten der Gesellschaft.

Der prozentuale Anteil dieser Bürger lässt sich nicht genau abschätzen (die Ergebnisse aller veröffentlichten Umfragen sind unter den gegenwärtigen Umständen höchst zweifelhaft), ist aber sicherlich erheblich.

«Die verstehen nur etwas von Stärke!» – versicherte mir eine Einkäuferin mittleren Alters, als sie mir von ihrer Bekanntschaft erzählte und über die «Sonderaktion» (gegen die Ukraine) sprach.

Und es gibt viele Leute wie sie, die davon überzeugt sind, dass es genau so ist, wie sie es im Fernsehen sagen.

Risse – in den Einstellungen und Bewertungen der Geschehnisse – ziehen sich inzwischen nicht nur durch Berufs- und andere Gemeinschaften, sondern auch durch die Familien.

Etwas Ähnliches ist meiner Erinnerung nach schon mindestens dreimal passiert. Im Herbst 1993, als Präsident Boris Jelzin ein «reaktionäres» Parlament auflöste (im Vergleich zur heutigen Staatsduma war dieses Parlament ein Musterbeispiel an Demokratie und Freiheit), im Herbst 1999, als der zweite Tschetschenienkrieg begann, und im Frühjahr 2014, als die Krim annektiert wurde.

Und jedes Mal war es fast unmöglich, vielen meiner Bekannten etwas zu erklären oder sie zumindest dazu zu bringen, die offiziellen Versionen in Frage zu stellen: Sie sprachen mit mir in Phrasen aus dem Fernsehen.

Aber es gab keine so grosse Kluft, wie sie jetzt besteht.

Und es war nicht so aussichtslos zu versuchen, einen Schatten des Zweifels auf das zu werfen, was als die einzig wahre Version gelten sollte.

Vielleicht, weil die Stilistik (und die Begriffe) des Grossen Vaterländischen Krieges (im 2. Weltkrieg), die von den Propagandakanälen pausenlos verbreitet werden, die Schutzbarrieren so vieler Menschen durchbrechen und sie der Fähigkeit berauben, das Geschehen kritisch zu beurteilen."

Link zum russischen Originalbeitrag

R.M.

 

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