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Finanzkrise

„Zur Genealogie des Unsinns“

28. Februar 2012
Stephan Wehowsky
Das zweite „Rettungspaket“ ist vom Deutschen Bundestag beschlossen worden, aber nur, weil das erste nicht geholfen hat. Das zweite wird auch nicht helfen, daher visiert man schon das dritte an. Den britischen Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell hätte das nicht erstaunt.

Man habe ihn immer wieder nachdrücklich gelehrt, so schreibt Russel in seinen „Unpopular Essays“ von 1950 (deutsch1951), dass „der Mensch mit Vernunft begabt“ sei. „Ein ganzes langes Leben hindurch habe ich eifrig nach einer Bestätigung dieser These Ausschau gehalten – leider ohne den geringsten Erfolg. Im Gegenteil, ich musste beobachten, wie die Menschheit mehr und mehr dem Wahnsinn verfiel.“

Bertrand Russell (1872 – 1970) war der genialste Mathematiker und scharfsinnigste Philosoph seiner Zeit. Zusammen mit Alfred North Whitehead schuf er das Grundlagenwerk „Principia Mathematica“ und als Philosoph begründete er die analytische Denkrichtung, die die angelsächsische Philosophie von Grund auf umkrempelte. Und da er zu einer Vielzahl von Themen immer wieder brillante Schriften verfasste, erhielt er 1950 den Nobelpreis für Literatur.

Manche können rechnen

Als Pazifist und politischer Aktivist galt Russell vielen seiner Zeitgenossen als enfant terrible, aber man muss ihm lassen, dass er bei allem Scharfblick und aller Scharfzüngigkeit kein Schwarzmaler oder Misanthrop war. So fährt er in seinem bereits zitierten Essay, „Zur Genealogie des Unsinns“ fort, „dass die Torheit ebenso alt ist wie die Menschheit selbst und dass die Menschen trotzdem nicht ausgestorben sind.“

Warum aber gelten die Menschen nach weit verbreiteter Anschauung als vernünftig? Aristoteles sei es gewesen, der die Menschen zum ersten Mal als vernunftbegabte Wesen bezeichnet habe. Und zwar habe er dafür die „wohl nicht sehr überzeugende Begründung“ angeführt, „dass manche Leute rechnen könnten.“ Diese Idee wiederum gehe „auf die Besonderheit des griechischen Zahlensystems zurück. Die Mängel dieses Systems machten schon das kleine Einmaleins zu einer schwierigen Angelegenheit, ganz abgesehen von verwickelteren Rechenaufgaben, die nur ganz gewitzte Leute mit Anstrengung zu bewältigen vermochten.“

Absurde Reparationen

Vielleicht ist ja, so liesse sich heute vermuten, aus dem griechischen Zahlensystem später die „griechische Statistik“ geworden, über die seit Jahren in Brüssel geschnödet wird. Davon konnte Russell noch nichts wissen, dafür nahm er dasjenige Element aufs Korn, an dem die Welt jetzt zugrunde gehen könnte: das Geld. Da man diesem, wie ursprünglich dem Gold und den Edelsteinen, „geheimnisvolle Kräfte“ zugeschrieben habe, sei der funktionelle Charakter des Geldes völlig verkannt worden. Das habe dazu geführt, dass Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg zu absurden Reparationen verdonnert worden sei:

„Nach dem ersten Weltkriege wurde ein Abkommen getroffen, dass Deutschland gewaltige Summen an England und Frankreich und die europäischen Siegermächte ihrerseits Riesensummen an die Vereinigten Staaten zu zahlen hatten. Alle Vertragspartner wollten in bar bezahlt werden. Offenbar übersahen die «Realisten», dass es so viel Geld auf Erden gar nicht gibt. Und sie übersahen ferner, dass Geld nutzlos ist, wenn es nicht für den Einkauf von Waren verwendet wird.“

Die magische Kraft

Wer da an Griechenland denkt, liegt sicherlich nicht ganz falsch. Denn der weitblickende Russell erweitert diesen Gedanken so, dass er damit auch unsere Zeit scharf und grell beleuchtet. Aufgrund der falschen Bedeutung, die man dem Gelde zugemessen habe, „hatten sich eines Tages die Barmittel der Schuldnerländer erschöpft, und da sie nicht in Waren bezahlen durften, machten sie bankrott. Die anschliessende Weltwirtschaftskrise war also eine unmittelbare Folge der noch immer lebendigen Vorstellung, dass dem Golde eine magische Kraft innewohne.“ Und nun folgt der Satz, der ins Schwarze trifft: „Heute scheint dieser Aberglaube überwunden zu sein, aber man kann gewiss sein, dass ein anderer an seine Stelle treten wird.“

Und die Art, wie man sich um nicht beweisbare, da wenig greifbare Ansichten balgt, hat sich auch nicht geändert: „Die wildesten Kontroversen werden gerade um solche Fragen geführt, die keine der streitenden Parteien hieb- und stichfest beantworten kann.“ Und süffisant fügt Russell hinzu: „Wenn die Theologie ihre Ansichten nicht länger durchzusetzen vermag, schreitet sie zu Verfolgungen – ein Mittel, auf das die Mathematik nicht angewiesen ist.“

Bleibt nur die Frage, wie die Finanzmärkte am Ende ihre Ansichten durchsetzen.


Bertrand Russell, Unpopuläre Betrachtungen, Europa Verlag Zürich, Neuausgabe 2009

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