Direkt zum Inhalt
  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
Zwischenruf

Wulff und der journalistische Zynismus

20. Januar 2012
Reinhard Meier
Reinhard Meier
Mein Journal21-Kollege René Zeyer hat eine bitterböse Polemik zur Affäre um Bundespräsident Wulff geschrieben. Dessen Schwächen seien typisch für die deutsche Politiker-Gilde, ja überhaupt für Politiker. Mit dieser zynischen Pauschalisierung bin ich nicht einverstanden. Sie verhöhnt im Grunde die Demokratie.

Der Beitrag „Rettet den Präsidenten“ meines Kollegen René Zeyer trieft von Zynismus und Hohn über den immer noch amtierenden deutschen Bundespräsidenten Wulff, der eine „idealtypische deutsche Politikerkarriere hingelegt“ habe. („Konkurrenten weggebissen, Schwächere niedergemacht, sich Stärkeren gebeugt“). Die Wulff attestierten Merkmale werden als absolut repräsentativ für Politiker in unserem nördlichen Nachbarland erklärt. Er verkörpere von den „schlechtsitzenden Anzügen“ bis zur „steifen und humorfreien Haltung“ den „typischen Saubermann, wie ihn die Deutschen lieben“.

Es geht nicht um Wulff, sondern um „die Politiker“

Mir geht es bei meinem Einspruch nicht um die Verteidigung von Wulff, dem man gewiss einige Ungeschicklichkeiten und Fehler ankreiden kann – aber bisher keine rechtlichen Missetaten. Es geht um die pauschale Herabsetzung und Verhöhnung nicht nur des politischen Personals in Deutschland, sondern mehr oder weniger sämtlicher Zeitgenossen, die sich hauptberuflich im politischen Geschäft engagieren. Berufspolitiker seien „in grosser Mehrzahl Vagabunden, Dummredner und Schönfärber, Sesselkleber...Intriganten und Nieten“, schreibt Zeyer.

Es mag ja sein, dass der Autor mit solchen Pauschal-Verdikten manchen Bürgern aus der Seele redet – ich vermute, es sind vor allem die Stammtisch-Maulhelden. Doch offenbar geht das seit Wochen von vielen Medien veranstaltete Skandal-Theater um die (eher biederen als atemraubenden) Peinlichkeiten des Berliner Bundespräsidenten allmählich einem grösseren Teil des deutschen Publikums auf die Nerven. „Die Bürger misstrauen den Journalisten inzwischen ebenso wie der Politik“, zitiert diese Woche die NZZ eine deutsche Zeitung.

Verwunderlich ist das nicht. Denn wer einen Amtsträger wie Wulff derart beckmesserisch abqualifiziert und wer im gleichen Aufwasch die gesamte Politikergilde in den Schmutzkübel der moralischen Verkommenheit haut, setzt sich auf ein sehr hohes Ross. Zumindest der skeptische Zeitgenosse – und von denen gibt es offenbar mehr, als manche medialen Moral-Schiedsrichter vermuten – stellt sich natürlich die Frage, ob denn jene Journalisten, die auf dieses Ross steigen, es mit hehren Tugenden wie Wahrheit, Seriosität, Integrität. Augenmass und Glaubwürdigkeit, die sie den Politikern so häufig absprechen, selber immer so vorbildlich halten.

“Bild“ als moralische Instanz?

Es entbehrt ja nicht der tiefen Ironie, dass ausgerechnet das Boulevardblatt „Bild“ – das nie von einer zynischen Manipulation zurückgeschreckt, wenn das der Auflage und dem seichten Klatschbedürfnis dient – die Kampagne gegen Wulff ins Rollen gebracht hat und diese weiter kühl kalkulierend orchestriert. Jedenfalls müsste man sich auch einmal fragen, weshalb denn das Ansehen der Medienleute in der öffentlichen Meinung insgesamt kaum höher steht als dasjenige der Politiker, bei denen es sich gemäss René Zeyers Analyse grossmehrheitlich um Dummköpfe oder Intriganten oder beides zusammen handelt.

Solche pauschalen Abqualifizierungen der Politiker laufen letzten Endes auch auf eine Verhöhnung der Demokratie hinaus. Denn was immer man gegen ihr Tun und Verhalten vorbringen mag – in Deutschland wie in andern funktionierenden Rechtsstaaten sind die Politiker in den führenden Ämtern nach verfassungsmässigen demokratischen Regeln gewählt, sei es direkt vom Volk oder indirekt durch die vom Volk gewählten Parlamente. Wenn diese Amtsträger aber generell als „Warmluftproduzierer und gescheiterte Existenzen“ tituliert werden, wird im Grunde auch das Volk, das sie – direkt oder indirekt – gewählt hat, als ignorant und dümmlich herabgewürdigt. Dieses Volk ist offenbar nicht intelligent genug, die richtigen Leute zu wählen. Wer die richtigen Politiker sein könnten, darüber schweigt sich der Autor aus.

Die historische Perspektive

Damit komme ich zu meinem letzten Widerspruch gegen die Generalverunglimpfung der deutschen Politiker. Wenn diese Politiker alles nur „Vagabunden“, „Dummredner“ und „Nieten“ sind, wie behauptet: Weshalb ist dann Deutschland heute der wirtschaftlich stärkste und politisch stabilste Staat unter den grossen Demokratien in Europa? Weshalb ruhen die grössten Hoffnungen auf eine eventuelle Rettung des Euro auf Deutschland? Und weshalb ist die deutsche Nachkriegsdemokratie (wir reden hier nicht von der gottseidank untergegangenen DDR) historisch gesehen das erfolgreichste und für seine Nachbarn verträglichste deutsche Staatswesen der Geschichte? Etwas mehr Distanz zu den tagespolitischen Aufgeregtheiten führt meist zu einem realitätsnaheren Bild.

Letzte Artikel

Der Papst und der Patriarch von Istanbul in Nizäa – Nur der Kaiser fehlte

Erwin Koller 4. Dezember 2025

EU berechenbarer als USA

Martin Gollmer 4. Dezember 2025

Dröhnendes Schweigen um Venezuela

Erich Gysling 1. Dezember 2025

Spiegel der Gesellschaft im Wandel

Werner Seitz 1. Dezember 2025

Bücher zu Weihnachten

1. Dezember 2025

Nichts Dringlicheres als die Rente?

Stephan Wehowsky 1. Dezember 2025

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Zurück zur Startseite
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.