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Gaza

«Wir kommunizieren mit Gewehrfeuer»

29. Juni 2025
Ignaz Staub
Gaza, Todesopfer
Ein Palästinenser, der durch Gewehrfeuer israelischer Soldaten erschossen wurde, als er bei einem Verteilungspunkt westlich von Jabalia im nördlichen Gazastreifen ein Nahrungsmittelpacket zu bekommen suchte. Aufnahme vom 22. Juni (Foto: Keystone/EPA/HAITHAM IMAD)

Die Regierung in Jerusalem weist als verlogen und verleumderisch einen Bericht der Tageszeitung «Haaretz» zurück, wonach die israelische Armee (IDF) auf unbewaffnete Menschen schiesst, die an Verteilzentren in Gaza auf Nahrungsmittelhilfe warten. Seit dem 27. Mai sollen auf diese Weise 549 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet worden sein. Die Führung der IDF hat eine Untersuchung der zitierten Vorfälle angeordnet.

«Haaretz» zufolge berichten Soldaten der israelischen Armee, ihnen sei im Verlauf des vergangenen Monats von Vorgesetzten befohlen worden, in Gaza auf Menschen zu schiessen, die sich an Verteilstellen für humanitäre Hilfe befunden hätten. Dies lediglich, um Ansammlungen von Leuten zu vertreiben oder zu zerstreuen, auch wenn sie keine Bedrohung für die Truppe dargestellt hätten.

An vier solchen Orten im Küstenstreifen versammeln sich täglich Tausende hungernder Menschen, um Lebensmittel zu erhalten, welche die Gaza Humanitarian Foundation (GHF), eine von Israel und amerikanischen Evangelikalen initiierte und von Söldnern bewachte Stiftung, an sogenannten «Schnellverteilzentren» in Gaza ausgibt. Die Erfahrung zeigt, dass diese Verteilung ersten Versprechen zum Trotz eher chaotisch verläuft. «Haaretz» hat 19 Fälle gezählt, in denen in der Nähe von Zentren geschossen worden ist.

Verteilzentren als Todesfallen

Laut Uno-Sprecher Jens Laerke sind die neuen Verteilzentren «Todesfallen» für die Menschen in Gaza: «Gaza ist der hungrigste Ort auf Erden. Wenn es uns gelingt, etwas hineinzubringen, wird es von der Bevölkerung umgehend geplündert. So gross ist das Ausmass der Verzweiflung.»

«Familienangehörige in Gaza riskieren ihr Leben, um an Nahrungsmittel zu kommen, während fast täglich berichtet wird, dass es zu Massenopfern von Leuten kommt, die versuchen, Vorräte zu finden», heisst es in einem Bericht der Uno-Stelle für humanitärer Hilfe (OCHA), der vergangene Woche erschienen ist: «Die meisten Familien überleben täglich mit nur einem wenig nahrhaften Mahl, während Erwachsene regelmässig Essen auslassen zugunsten von Kindern, Älteren und Kranken, während ihr Hunger und ihre Verzweiflung wachsen.»

Hilfe tötet Menschen

Uno-Generalsekretär António Guterres sagte am Wochenende, die von den USA unterstützte Hilfsoperation in Gaza sei «grundsätzlich unsicher»: «Sie tötet Menschen.» Leute, so Guterres, würden getötet, während sie einfach versuchten, sich und ihre Familie zu ernähren: «Die Suche nach Nahrung darf nie ein Todesurteil sein.»

«Haaretz» zitiert Soldaten und Offiziere der israelischen Armee (IDF), die detailliert berichten, was sie in jüngster Zeit in Gaza erlebt und gesehen haben. «Es ist eine Todeszone», sagt ein Soldat der IDF: «Als ich dort (in Gaza) stationiert war, wurden jeden Tag zwischen einem und fünf Menschen erschossen. Sie werden wie eine feindliche Armee behandelt – keine Massnahmen zur Kontrolle von Menschenmengen, kein Tränengas – nur scharfe Schüsse aus allen erdenklichen Waffen: schwere Maschinengewehre, Granatenwerfer, Mörser. (…) Unsere Form der Kommunikation ist das Gewehrfeuer.» 

«Es gibt keinen Feind» 

Sie würden, erzählt der Soldat, früh morgens das Feuer eröffnen, wenn jemand aus einer Entfernung von mehreren Hundert Metern versuche, anzustehen, und manchmal Menschen auch aus der Nähe angreifen: «Es besteht aber keine Gefahr für unsere Truppe. Ich bin mir keines einzigen Falles bewusst, in dem zurückgeschossen worden wäre. Es gibt keinen Feind, keine Waffen.»

Ein Offizier berichtet der israelischen Tageszeitung, eine Kampfbrigade verfüge nicht über die Mittel, die es brauche, um Zivilisten in einem Kriegsgebiet zu kontrollieren: «Mörserfeuer, um hungrige Menschen auf Distanz zu halten, ist weder professionell noch human.» Anderen IDF-Offizieren ist die Armeeführung mit dem Umstand zufrieden, dass die Hilfsoperation der GHF einen totalen Kollaps der internationalen Legitimität für eine Fortsetzung des Kriegs verhindern. 

Der Armee, so Offiziere, sei es besonders nach Beginn des Krieges mit dem Iran gelungen, Gaza in einen «Hinterhof» zu verwandeln. «Gaza interessiert niemanden mehr», sagt ein Reservist, der im Norden des Küstenstreifens Dienst geleistet tat: «Es ist zu einem Ort mit einem besonderen Regelwerk geworden. Der Verlust an Menschenleben bedeutet nichts. Es ist nicht einmal mehr ‘ein unglücklicher Zwischenfall’, wie sie zu sagen pflegten.»

Weder ethisch noch moralisch

Ein anderer Offizier einer Einheit zur Absicherung eines Verteilzentrums hält das Vorgehen der israelischen Armee für höchst fragwürdig: «Mit einer Zivilbevölkerung in Kontakt zu kommen, wenn dein einziges Interaktionsmittel das Eröffnen von Feuer ist – das ist hochgradig problematisch, um es noch vornehm auszudrücken: Es ist weder ethisch noch moralisch zu begründen, dass Leute, die eine humanitäre Zone erreichen wollen oder sie auch nicht erreichen können, das unter dem Feuer von Panzern, Scharfschützen und Mörsergranaten tun müssen.»

Die israelische Armee hat verlauten lassen, dass sie den Bericht von «Haaretz» entschieden zurückweise: «Die IDF befehlen Truppen nicht, absichtlich auf Zivilisten zu schiessen, einschliesslich jener, die sich Verteilzentren nähern. Um es klar zu sagen: Die Richtlinien der IDF verbieten gezielte Attacken auf Zivilisten.» Derweil monieren Kritiker, Untersuchungen der IDF würden nur in einem verschwindend kleinen Bruchteil der Fälle zu Konsequenzen führen.

Untersuchung angeordnet

Trotzdem hat der Generalstaatsanwalt der Armee die für Faktenermittlung zuständige Untersuchungsstelle des Generalstabs angewiesen, mutmassliche Kriegsverbrechen bei Verteilzentren zu untersuchen. Ausserdem gibt es armeeintern auch Kritik am für Gaza zuständigen Kommando Süd der IDF, weil diese Führungsinstanz es versäumt habe, Vorfälle wie jene an den Verteilzentren gründlich zu untersuchen und allfällig involvierte Vorgesetzte zur Rechenschaft zu ziehen. 

Derweil befürchtet ein höherer israelischer Offizier, die Vorfälle bei den Verteilzentren würden die moralischen Standards der Armee weiter untergraben: «Es ist meine grösste Furcht, dass die Erschiessung von Zivilisten und das harte Vorgehen gegen sie in Gaza und ihr Leid nicht das Ergebnis einer operationellen Notwendigkeit oder schlechten Urteilsvermögens sind, sondern das Produkt einer Ideologie von Feldkommandanten, die sie ihren Untergebenen als operationellen Plan weitergeben.»

 «Täglich Dutzende Opfer»

Neben anderen dürften sie Brigadier Yehuda Vach, den Kommandanten der 252. Division der IDF, meinen, der etwa die unautorisierte Zerstörung eines Spitals in Gaza befohlen hat. Vach habe entschieden, Ansammlungen von Palästinenserinnen und Palästinensern, die auf die Lastwagen mit Lebensmitteln warteten, mit scharfem Feuer aufzulösen. «Das ist Vachs Taktik», sagt ein Offizier seiner Einheit: «Viele Kommandanten und Soldaten haben sie jedoch fraglos akzeptiert. Die Menschen gehören ihm zufolge nicht dorthin, also gilt es sicherzustellen, dass sie von dort weggehen, selbst wenn sie nur auf Lebensmittel warten.»  

Dem Vernehmen nach ist die Generalstaatsanwaltschaft der Ansicht, Auskünfte der Armee würden den Fakten vor Ort widersprechen. «Die Behauptung, dass dies Einzelfälle sind, lässt sich nicht in Einklang bringen mit Zwischenfällen, bei denen Granaten aus der Luft abgeworfen wurden und mit Mörsern und Artillerie auf Zivilisten geschossen worden ist», sagt ein Offizieller des Verteidigungsministeriums: «Hier geht es nicht um ein paar einzelne Leute, die getötet werden – wir sprechen hier von täglich Dutzenden von Opfern.»

«Die moralischste Armee der Welt» 

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz haben den Bericht von «Haaretz» inzwischen unmissverständlich als antisemitische «Blut- oder Ritualmordlegende» zurückgewiesen. Die Recherche der Zeitung, behaupten sie, beinhalte «bösartige Lügen», die darauf abzielten, «die moralischste Armee der Welt in Verruf zu bringen».         

Den beiden Politikern dürfte tags zuvor ein anderer Artikel in der Tel Aviver Tageszeitung missfallen haben, der unter dem Titel «100’000 Tote: Was wir über die wahre Opferzahl in Gaza wissen» erschien. Der Beitrag zitiert Experten wie Professor Michael Spagat, einen Ökonomen der University of London, der unter anderem Dutzende von Artikeln über die Kriege im Irak, in Syrien oder im Kosovo verfasst und mit einem Team von Forschern die bisher umfassendste Studie über Israels Krieg in Gaza publiziert hat. 

937 getötete Säuglinge

Die Studie, vergangene Woche als «preprint» erschienen, kommt zum Schluss, dass die wirkliche Zahl der Toten in Gaza wesentlich höher ist als jene Zahlen, welche das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium in Gaza zu publizieren pflegt. Dessen letzte Statistik, von Israel als übertrieben eingestuft, spricht von 55’202 Toten, unter ihnen 17’121 Kinder unter 18 Jahren und 9’126 Frauen. Die 1’227 Seiten lange Aufzählung listet nach Alter die Namen der Opfer auf: Die ersten 937 Namen sind jene von getöteten Säuglingen, die jünger als ein Jahr alt waren. Die IDF sprechen, ohne Namen oder nähere Einzelheiten zu nennen, von 20’000 getöteten Kämpfern der Hamas und anderer Organisationen.

Michael Spagats Forscherteam kommt nun zum Schluss, dass bis Ende letzten Jahres 83’740 Menschen in Gaza getötet worden sind – entweder in grösserer Zahl als Folge von militärischer Gewalt oder in kleinerer Zahl aufgrund von Krankheiten und Hunger. Seit Anfang Jahr sind laut der Behörde in Gaza mehr als 10’000 Menschen getötet worden, was den Forschern zufolge die Opferzahl auf gegen 100’000 Tote steigen lässt.

Es ist eine Zahl, die dem Londoner Ökonomen zufolge den Krieg in Gaza zu einem der blutigsten Konflikte des 21. Jahrhunderts macht: «Ich glaube, wahrscheinlich sind in Gaza vier Prozent der Bevölkerung getötet worden.» Noch aber spricht Michael Spagat nicht von einem «Genozid» in Gaza. Seine Studie, sagt er, lasse diesen Schluss nicht zu. Im besten Fall handle es sich «lediglich» um «eine ethnische Säuberung».

Quellen: «Haaretz», «The Guadian», «The New Yorker», «The New York Times»

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