Das massenhafte Eindringen fremder Drohnen im polnischen Luftraum hat in der Nato-Allianz mit gutem Grund Alarm ausgelöst. Moskau bestreitet einen geplanten Angriff, und einige Fragen sind ungeklärt. Aber Putins Überfall auf die Ukraine vor dreieinhalb Jahren bleibt als Zeichen an der Wand: Auch damit hatten die wenigsten Beobachter gerechnet.
Über das Eindringen von fremden Drohnen in Polen und deren Abschuss in der Nacht auf den Mittwoch wird vor allem im Westen mit dicken Schlagzeilen und nicht geringer Beunruhigung berichtet. Der polnische Ministerpräsident Tusk spricht von einem «Akt der Aggression» und lässt keine Zweifel offen, dass es sich um russische Drohnen handelt, die gezielt gegen sein Land abgefeuert wurden. Nach diesen Angaben war es ein Schwarm von 19 oder 20 dieser Geschosse, die in den polnischen Luftraum eingedrungen sind. Einige von ihnen wurden von polnischen F-16 und holländischen F-35 Kampffliegern abgeschossen, andere von amerikanischen Patriot-Luftabwehrsystemen, die in dieser Gegend stationiert sind und offenbar von deutschen Mannschaften bedient werden. Die polnische Regierung hat am gleichen Tag unter Bezugnahme auf Artikel 4 des Nato-Vertrages die Mitglieder der Allianz zu Beratungen über das weitere Vorgehen nach diesem schwerwiegenden Einfall einberufen.
Russische Dementis und andere Beschwichtigungen
Auf russischer Seite wird eine gezielte Aggression gegen Polen dementiert. Angesichts der notorischen Lügen und Verdrehungen, die die Kreml-Propaganda und ihre Nachbeter zum laufenden Angriffskrieg gegen die Ukraine verbreiten, hütet man sich allerdings davor, solche Unschuldsbeteuerungen zum Nennwert zu nehmen. In einer sehr kurzen Stellungnahme des Moskauer Verteidigungsministeriums hiess es am Mittwoch, die russischen Streitkräfte hätten in der Nacht eine grossangelegte Drohnen-Operation gegen «Unternehmungen des ukrainischen militärisch-industriellen Komplexes» in der Westukraine durchgeführt. Man habe keine Angriffe gegen Ziele auf polnischem Territorium «geplant». Dennoch sei man bereit, «mit dem polnischen Verteidigungsministerium Konsultationen in dieser Sache zu führen», heisst es weiter in der russischen Stellungnahme, über die das amerikanische Medienportal «Politico» berichtet.
Der russische Botschafter in Warschau erklärte am Mittwoch, es gäbe vorläufig keine Beweise, dass es sich bei den in Polen eingedrungenen Geschossen um russische Drohnen handle. Schon vorher hatte der stellvertretende belarussische Verteidigungsminister verlauten lassen, man habe zu der fraglichen Zeit Drohnen beobachtet, die «von ihrem Kurs abgekommen» seien, nachdem man sie «gestört» habe. Darüber seien die polnischen und litauischen Behörden informiert worden.
Schliesslich werden in Putin-hörigen Internet-Medien auch Spekulationen verbreitet, bei den in Polen eingedrungenen Drohnen könnte es sich um eine ukrainische Inszenierung handeln, also um ein Manöver unter falscher Flagge. Mit solchen Unternehmungen, so wird die Verschwörungstheorie weitergesponnen, versuche Kiew, die Nato-Länder stärker oder gar direkt in den Krieg mit Russland zu verstricken.
Notwendige Klärungen
Derartige Verharmlosungen des Tatbestands, dass in der Nacht auf den Dienstag fast zwei Dutzend Drohnen in polnisches Territorium eingedrungen sind, müssen mit gebotenem Misstrauen registriert werden. Denn, wie erwähnt, stammen sie hauptsächlich aus Quellen, die unbestreitbar dem Umfeld des Putinschen Machtapparats und seiner propagandistischen Rechtfertiger zuzuordnen sind. Das wiederum soll nicht heissen, dass bisher offene Fragen dieses gravierenden Vorfalls nicht einer notwendigen Klärung bedürfen. Das betrifft nicht zuletzt die Frage, ob die in Polen abgeschossenen Drohnen tatsächlich russischer Herkunft sind und von russischer Seite lanciert wurden. Ebenso möchte man genau wissen, ob diese Drohnen bewaffnet, das heisst mit einer Sprengladung ausgerüstet waren. Bekannt ist bisher nur, dass die in Polen abgeschossenen oder gelandeten Geschosse keine grösseren materiellen Schäden verursachten.
Die entscheidende Frage aber stellt sich im Zusammenhang mit Putins eigentlichen Absichten. Ist der Machthaber in Moskau, der seit dreieinhalb Jahren einen Eroberungskrieg in der Ukraine führt, allen Ernstes gewillt, diesen Krieg auch gegen ein Nato-Land auszuweiten? Oder ist der Drohnenschwarm nur eine Provokation und ein Testfall, um herauszufinden, wie und mit welchen Mitteln die Nato-Allianz auf solche neuen Provokationen reagiert?
Das Menetekel vom Februar 2022
Manche Leute mögen der Ansicht sein, das seien allzu dramatische und alarmistische Fragestellungen, die wenig mit den Realitäten zu tun hätten. Schliesslich sei Putin nicht so verrückt oder vermessen, durch eine solche Provokation einen offenen Krieg mit dem ganzen Nato-Verbund zu riskieren. Solchen Einwänden muss man indessen die Erinnerung an den Beginn des russischen Ukraine-Überfall im Februar 2022 entgegenhalten. Hatte damals nicht die Mehrheit der Beobachter und Russland-Experten, der Schreibende inbegriffen, gemeint, Putin gehe es mit seinen militärischen Massierungen an der Westgrenze nur darum, die Ukraine zu erpressen, aber nicht um einen wirklichen Krieg?
Jene Fehleinschätzungen gilt es bei der weiteren Beobachtung des Drohnen-Einfalls in Polen mitzubedenken. Deshalb ist es richtig, dass Polen diesen Vorfall nicht auf die leichte Schulter nimmt und die Nato-Partner alarmiert hat.