
Kunstmuseen sammeln Bilder, Skulpturen, Installationen, Zeichnungen. Die Depots füllen sich unaufhaltsam. Gelegentlich geben die Museen Einblick in ihre Schatzkammern. Drei solche Ausstellungen haben wir besucht. Sie gehen ganz unterschiedliche Wege.
Die Depots der Kunstmuseen platzen aus den Nähten. Sammlungskonservatorinnen suchen Ordnung in die Vielzahl zu bringen, wagen Zuschreibungen da und Abschreibungen dort. An geeigneten Räumen herrscht Mangel. Oft sind Museen, wie neulich in Solothurn, gezwungen, Schenkungen abzulehnen: Es fehle die Qualität der Werke, deren Betreuung erst noch zu viel teures Personal binde. Oft sind Schenkungen mit Auflagen verbunden, auf die ein Museum nicht eintreten kann – zum Beispiel, dass sie stets in den Ausstellungsräumen präsent sein müssen.
Trotz aller Schwierigkeiten zeigen die Kunstmuseen ihre Schätze wenigstens in strenger Auswahl. Die Strategien sind nach künstlerischem Potential der Sammlungen unterschiedlich. Wenn es, wie in Basel, Zürich oder Bern, Werke von Weltgeltung gibt, will das Publikum sie sehen können, und das Museum will sie auch zeigen. Doch auch im weitgehend unbekannten Mittelfeld sind spannende Kunstbegegnungen möglich, Geschick in der Vermittlung und Risikobereitschaft in der Präsentation der Werke vorausgesetzt: Ungewohnte, vielleicht gar Widerspruch erntende Gegenüberstellungen können auf heilsame Weise stören und das Publikum zur Revision überlieferter Sichtweisen anregen.
Chur: von hier aus in die Zukunft
Das Bündner Kunstmuseum in Chur stellt zur Jubiläumsausstellung «125 Jahre Bündner Kunstverein» sämtliche Räume der Villa Planta und des vor zehn Jahren eröffneten Neubaus der hauseigenen Sammlung zur Verfügung. Wenig spektakulär ist die Präsentation in der Villa Planta. Man vertraut ganz der Qualität der Werke Angelika Kauffmanns, der Giacometti-Künstler, Segantinis, Amiets und anderer und setzt auf ihre «klassische» Präsentation in den grossbürgerlichen Räumen der 1870er Jahre.
Zwei Ausnahmen sind allerdings bemerkenswert: Im Raum mit Werken Alberto Giacomettis zeigt Museumsdirektor Stephan Kunz zwei hellblau monochrome Malereien Rémy Zauggs. In einem anderen Raum trifft Cuno Amiets «Blumenstrauss mit Hodler-Büste» (1931) auf eine florale Skulptur von Sara Masüger (*1978). Beide Beispiele schlagen auf höchst anregende Art Brücken.
Im Untergeschoss der Villa und im Neubau schlägt Stephan Kunz andere Wege ein. Das Untergeschoss der Villa wird zum Kabinett, dessen intime Räume einen geeigneten Rahmen für die reichen Bestände an Zeichnungen und andere Papierarbeiten abgeben. Hier ist auch, ein Detail, ein schönes, 1974 entstandenes Video von Ulrike Rosenbach zu sehen, das den Tanz einer Frau zeigt. Das ist ein Brückenschlag zur Ausstellungsgeschichte des Hauses, denn dem Video war 2020 in einer Ausstellung zum Themenkreis (Toten-)Tanz und Körperkunst zu begegnen.
In den Untergeschossen des Erweiterungsbaus treffen wir einerseits auf zahlreiche Werke Kirchners und der Künstler der Rot-Blau-Gruppe, andererseits auf Werke der Gegenwartskunst: Roman Signer, Jean-Frédéric Schnyder, Dieter Roth, Meret Oppenheim, Erica Pedretti zum Beispiel, aber auch Not Vital, Hamish Fulton, Richard Long, Bethan Huws. Eine Rarität ist eine Zusammenarbeit Niele Toronis mit Alan Charlton (1995). Die Präsenz mancher Werke in Chur hängt zusammen mit den Aktivitäten der Galerie Tschudi in Zuoz, die im Bereich einer streng reduzierten Kunst des 20. Jahrhunderts Pionierarbeit leistete. An Gross-Installationen ist der «Ruheraum mit Tränen» (1996) des aus Davos stammenden Thomas Hirschhorn zu sehen. Das Museum in Chur erwarb das Werk vor Jahresfrist. Andere der gezeigten Werke sind Leihgaben, gezeigt als «Desiderata» – gewissermassen als «Wunschzettel» für künftige Neuerwerbungen.
Christoph Rütimanns Künstler-Leihgabe
Den Status einer Künstler-Leihgabe nehmen Christoph Rütimanns Zweikanal-Videoprojektion «Endlose Kameraschienenfahrt Landquart–Tirano–Landquart» und die dazugehörende Schlaufe ein. Es handelt sich um ein aufwändiges Grossprojekt in Zusammenarbeit mit der Rhätischen Bahn. Rütimann baute eine Endlos-Schlaufe für die sich ständig drehend bewegte Kamera und platzierte sie auf einem Zug der Rhätischen Bahn, der von Landquart nach Tirano und zurück fuhr. Was die Videoprojektion während rund vier Stunden zeigt, ist ein ständiges, schwindelerregendes Um-sich-Drehen des Bildes während der Zugsfahrt ins Veltlin und zurück.
Der Künstler hat seine Wurzeln im Prättigau. Er entfaltete aber seine künstlerische Arbeit zuerst in Luzern und jetzt im Kanton Thurgau. Mit dieser spektakulären Arbeit kehrt er zurück an seinen Ursprungsort. Ähnliches gilt auch von Hirschhorn und weiteren. Bei wieder anderen Künstlerinnen und Künstlern verliefen die Wege umgekehrt: Die deutsche Malerin Anne Loch (1946–2014) zum Beispiel zog sich nach erfolgreichen Jahren in deutschen Kunstzentren in stille Bündner Bergtäler zurück und schuf hier in der Abgeschiedenheit weitere Werkgruppen.
«Von hier aus» titelt des Museum – und sagt damit, es wolle das in den vergangenen 125 Jahren Erreichte in eine ferne Zukunft hinein weiterentwickeln als visuelles Gedächtnis einer Kunstregion.
Lausanne ehrt Alice Pauli
Alice Pauli, Galeristin, Sammlerin und Mäzenin in Lausanne, 2022 im Alter von 100 Jahren verstorben, war eng mit dem Musée cantonal des Beaux-Arts verbunden. Sie stand als treibende Kraft hinter dem Schwerpunkt Lausannes als internationalem Zentrum der Tapisserie-Kunst. Sie baute eine grosse Sammlung mit Werken des italienischen Arte-Povera-Künstlers Giuseppe Penone, weiterer italienischer Künstler, des deutschen Malers Julius Bissier sowie vieler weiterer international oder in Lausanne bekannter Künstlerinnen und Künstler auf. Sie unterstützte mit substanziellen Beiträgen das 2019 eröffnete neue Lausanner Kunstmuseum und spielte weit über Lausanne hinaus eine wichtige Rolle im internationalen Kunsthandel.
In der chronologisch aufgebauten Sammlung des Museums – mit vielen Werken der Westschweizer Kunst des 19. Jahrhunderts (Burnand, Gleyre, Ducros, Saint-Ours, die Frères Sablet, Boçion, aber auch Anker und Courbet und schliesslich Vallotton) – ist zahlreichen Schenkungen von Alice Pauli zu begegnen. Sie war zweifellos auch eine gewiefte Geschäftsfrau, der es zum Beispiel gelang, den Nachlass von Julius Bissier an ihre Galerie zu binden oder die Tapisserien von Jean Lurçat oder Magdalena Abakanovic weltweit zu vertreiben. Sie und ihre Aktivitäten sind nun Thema einer Ausstellung im Waadtländer Kantonsmuseum. Es ist keine Sammlungsausstellung im strengen Sinn, aber doch eine Ausstellung, die im Zusammenhang mit dem weitverzweigten Netzwerk Paulis über die Hintergründe der Lausanner Kunstsammlung im Bereich der Moderne und der Gegenwartskunst informiert. Namen u. a. sind Alicia Penalba, Maria Helena Vieira da Silva, Mark Tobey oder Pierre Soulage.
Luzern fragt nach Schönheit
«Schön?!» setzt Alexandra Blättler, die Sammlungskonservatorin im Kunstmuseum Luzern, als Titel über die diesjährige Präsentation der Sammlung. Das Kunstmuseum Luzern verfolgt eine andere Strategie im Umgang mit den hauseigenen Beständen als die anderen Häuser. Einerseits hat die Sammlung einen durchaus eigenen Charakter mit ihren Schwerpunkten auf historischer Innerschweizer Kunst (Wyrsch, Diogg, Reinhart, Zünd), aber auch Calame, andere Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts, Hodler. Andererseits hinterliess die Ausstellungstätigkeit im ausgehenden 20. und im 21 Jahrhundert ihre Spuren. Stichworte sind Arte Povera, Individuelle Mythologien, Neue Malerei der 1980er und 1990er Jahre und zeitgenössische internationale Kunst, darunter auch grosse Installationen. Eine wichtige Rolle spielt BEST, die Nachfolgerin der Bernhard Eglin Stiftung. Eine Gruppe von rund 40 Stiftungsräten finanziert jährlich mit Beiträgen Ankäufe für die Sammlung.
Statt permanent einen Überblick über die Sammlungsbestände zu bieten, was aufgrund der Platzverhältnisse ohnehin nicht möglich wäre, legt das Haus jeweils in jährlichem Wechsel unter einem thematischen Stichwort eine Linie durch das Sammlungsgut. 2024 war es das Thema Provenienz. Für 2025 suchte Alexandra Blättler in den Magazinen nach Belegen zum Thema «Schön?!». Sie nimmt damit unausgesprochen Bezug auf den im Museums-Gästebuch hin und wieder geäusserten Wunsch «Wir möchten wieder einmal schöne Bilder sehen» und stellt die Frage zur Diskussion, wie sich denn Kunst zum Problem der Schönheit verhalte, welchen Stellenwert der Schönheitsbegriff zu welchem Zeitpunkt hatte und hat, was denn Schönheit im Kontext welchen Zeitgeistes bedeute. Nun liessen sich zu solch bedeutungsschwangeren Fragen ganze Reihen von Abhandlungen schreiben. Wichtiger ist im Zusammenhang einer Ausstellung allerdings das sinnliche Erlebnis: Da zeigt sich, wie denn wer in welchem Zusammenhang welches Kunstwerk als schön oder als hässlich erlebt.
Zum Beispiel: Der Pariser Louvre lieh Leonardos «Mona Lisa» nicht nach Luzern aus. Hier befindet sich aber eine Kopie des Porträts der «schönsten Frau der Welt», etwas arg nachgedunkelt, aber immerhin. Es gibt Landschaften, Stillleben, Porträts schöner Damen und stattlicher Herren. Konstruktivistische Malereien leuchten in prächtigen und fein abgestimmten Farben. Roual Dufys Parklandschaft ist üppig und schön. Hodlers Breithorn glänzt im Sonnenlicht. Doch fraglos ist die Schönheit deswegen nicht. Sie kann, bei Füssli oder Vallotton, «schaurig schön» sein, oder, im Fall von Emmeneggers oder Vallottons Rückenakten, von (unfreiwillig?) ironischer penibler Exaktheit. Riesengross dominiert eine Malerei Christine Streulis einen Raum.
Arnold Böcklin schuf 1861 das Porträt seines Sohnes – ein nur 30 auf 29 cm messendes Bildnis in zarten Farbtönen: Rosa die Bluse, silbrig graublau der Hintergrund, der präzis die Farbe der Kinderaugen aufnimmt. Die Präsentation dieses kleinen Meisterwerkes zeigt den Umgang des Künstlers Hubert Hofmann mit der aktuellen Farbgebung der Räume. Hofmann, der sich in den letzten Jahren auf Kunst-am-Bau-Projekte, Farbeinsatz im öffentlichen Raum und Architekturfragen spezialisiert hat und für die Farbgebung der Sammlungspräsentation verantwortlich zeichnet, gab diesem Böcklin-Gemälde eine perfekt auf das Bildnis Bezug nehmende farbliche Gestaltung der Wände. Auch andere Räume sind derart farblich gestaltet – mal dezent und in feinen Abstufungen, mal (fast zu) intensiv wie dort, wo es um ein Umfeld für Werke der Zürcher Konkreten geht. Ob da Ironie im Spiel ist? Vielleicht. Doch der gesamte Fluss der Farbabfolgen gibt den Räumen ein wechselndes Gesicht – und gibt Anlass zu beobachten, wie der Farbkontext welche Art «Schönheit» der Malereien stützt oder kontrastiert.
Bündner Kunstmuseum Chur: «Von hier aus», bis 6.Juli
Musée Cantonal des Beaux-Arts Lausanne: «Alice Pauli. Galeristin, Sammlerin und Mäzenin», bis 4. Mai
Kunstmuseum Luzern: «Schön?! Ästhetische Betrachtung der Sammlung», ab 7. März mit Auswechslung einzelner Werke bis Ende Jahr
Fotos: Niklaus Oberholzer