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Schiffskatastrophe vor Griechenland

Wer ist für die Hunderte von Opfern verantwortlich?

16. Juni 2023
Erich Gysling
Erich Gysling
Bootsunglück Überlebende
Überlebende sitzen in einem Lagerhaus in Kalamata, nachdem ihr Boot mit Hunderten von Migranten an Bord im Ionischen Meer gesunken ist. Bei dem Unglück am 15. Juni 2023 wurden 104 Personen gerettet. Über die Zahl der Toten gibt es keine Klarheit. (Keystone/EPA, Angelos Tzortzinis)

Der Untergang eines mit Migranten überfüllten und nicht seetauglichen Bootes vor der griechischen Küste ruft der Frage nach den Schuldigen. Routinemässig werden sie in Europa vermutet. Doch so einfach ist es nicht. Grossen Anteil am Flüchtlingselend haben nahöstliche Regierungen.

Bis zu 750 Menschen waren zusammengepfercht auf dem vor der griechischen Halbinsel Peloponnes gekenterten Boot. Der Untergang wurde zu einer Katastrophe, deren Details man sich schlicht nicht ausmalen kann. Hunderte, wahrscheinlich mehr als fünfhundert, unter ihnen auch etwa einhundert Kinder, ertranken.

Jetzt füllen sich die Spalten der Artikel in den europäischen Zeitungen mit Vorwürfen an die Adresse der griechischen Behörden, sie hätten bei Funkkontakten mit Menschen auf dem Boot zu wenig darauf beharrt, den Kahn in einen Hafen Griechenlands abzuschleppen. Die Mitarbeiter der betreffenden Dienststellen in Griechenland (übrigens auch Mitarbeiter von NGOs) kontern, die Angerufenen hätten strikt darauf bestanden, in Richtung Süditalien weiterzufahren, koste es, was es wolle.

Appell ans eigene Gewissen

Weiter ausgreifende Kritik oder Selbstkritik in den Medien lautet, die Europäische Union habe versagt, wann immer sie sich mit dem Thema Migration befasste. Die kürzliche Einigung auf striktere Kontrollen an den Aussengrenzen des Schengenraums (dazu gehört auch die Schweiz) sei zwiespältig, und die Finanzhilfe für Tunesien sei letzten Endes mehr ein Obolus zugunsten des diktatorisch auftretenden Präsidenten Kais Sayed als eine echte Abhilfe für das Migrationsproblem. Und schliesslich habe «ganz Europa» nach den Massenprotesten des sogenannten arabischen Frühlings von 2011 versagt. Danach hätte man, so schrieb ein Kommentator im «Tages-Anzeiger», sich viel entschlossener für wirtschaftliche Hilfe etwa in Libyen oder Ägypten engagieren müssen.

Der Appell ans eigene Gewissen (oder zumindest an jenes der in unseren Ländern politisch Verantwortlichen) ist achtbar und ehrenhaft – nur: Warum wird fast nie oder bestenfalls oberflächlich hinterfragt, weshalb denn Menschen aus Afghanistan, Pakistan, Syrien (aus diesen Ländern stammten ja wahrscheinlich die meisten der bis zu 750 Passagiere auf dem gekenterten Unglücksboot), wenn sie aus diesem oder jenem Grund flüchten müssen, die lebensgefährliche und kostspielige Reise bis nach Europa unternehmen. Weshalb suchen sie nicht in ihrer eigenen Region Schutz und eine Möglichkeit zum Leben? Es läge doch nahe – aus religiösen und sprachlichen Gründen vor allem.

Man muss differenzieren: Es gibt im Nahen und Mittleren Osten Staaten, die Millionen Flüchtende aufgenommen haben. Jordanien und Libanon beherbergen Migrantinnen und Migranten vor allem aus Syrien. Gleiches gilt für die Türkei, wo sich geschätzt sogar mehr als drei Millionen Menschen aus Syrien aufhalten. Diese drei Länder sind nicht reich, Libanon steckt sogar permanent in einer wirtschaftlichen Krise. Was zur Frage führt: Was ist denn mit den reichen Vettern, also all den Ländern um den Persischen Golf, mit Saudi-Arabien, den Emiraten, Qatar und Kuwait?

Keine Flüchtlinge in Saudi-Arabien und in Golfstaaten

Gute Frage! Das sind ja alles Länder, die dank der Förderung und dem Export von Erdöl und Erdgas in Petrodollars schwimmen und ausserdem auch geringe Bevölkerungszahlen haben. Aber keines dieser Länder nimmt Flüchtlinge auf. Sie haben zwar alle hohe Prozentzahlen von Ausländern in der Bevölkerungsstatistik. Aber da handelt es sich nicht um Migranten, sondern ausschliesslich um angeworbene Gastarbeiter, die zurückgeschickt werden, wenn ein Job etwa aufgrund eines fertiggestellten Bauprojekts entfällt.

Die Regierungen dieser Staaten argumentieren allerdings anders: Sie würden sich sehr wohl um das Elend von Flüchtlingen kümmern, sagen sie unisono, aber sie täten das aus bestimmten Gründen auf ihre eigene Art und Weise. Warum? Erstens seien die Lebenshaltungskosten in ihren Ländern für Zufluchtsuchende exorbitant hoch, also könnten sich Migrantinnen und Migranten in den Supermärkten nichts kaufen, weil die Preise viel zu hoch seien. Zweitens engagierten sie, die Regierenden, sich auf andere Weise – vor allem durch grosszügige Geldspenden an Länder, in die Menschen in Not bereits geflüchtet seien.

Die wahren Gründe sind jedoch anderswo zu verorten. Die betreffenden Regierungen befürchten, dass Zufluchtsuchende nicht genehme Ideologien wie jene des politischen Islam in ihre Gesellschaften einschleppen, dass ihre autoritäre Herrschaftsform untergraben und dass Kräfte wie die Moslembruderschaft zu einer echten Herausforderung werden könnten. Und ausserdem: Gastarbeiter etwa aus Indien, Pakistan oder Bangladesh, die kann man nach Belieben wieder in die Heimat zurückschaffen – aber wäre das auch bei Flüchtlingen möglich? Wohl kaum. Also lässt man sie besser gar nicht herein.

Da ist es, aus der Perspektive der Herrschenden, doch viel einfacher, Gelder in Länder zu transferieren, in denen ohnehin schon viele Flüchtlinge sind – nach Jordanien oder Libanon etwa (von Geldtransfers in die Türkei ist dagegen nichts bekannt). Ägypten, Transitland für Millionen von Flüchtlingen, erhält zwar ebenfalls Milliarden aus Saudi-Arabien, aber ob von solchen Geldern irgend etwas für den Bereich der Migration übrigbleibt, ist nicht transparent.

Untätigkeit gegenüber der Migrationsmafia

In Ägypten hat sich hingegen eine Migrationsmafia gewaltigen Ausmasses ausgebreitet. Es ist kein Zufall, dass alle neun von den Griechen geretteten Besatzungsmitglieder des gekenterten Boots Ägypter sind. Das Schiff, wohl kaum geeignet für eine Mittelmeerüberfahrt, hatten sie billig gekauft, noch an einem ägyptischen Hafen halbwegs vollgepfercht, um es dann im libyschen Tobruk (dort führt Milizenchef Haftar das Zepter) bis zum letzten Fleck mit Menschenfracht zu beladen. Wer mitfahren wollte, zahlte pro Kopf, so wurde von Überlebenden berichtet, zwischen 5’000 und 6’000 Dollar. Ergäbe, bei voller Ladung, einen Betrag von mindestens 3,5 Millionen Dollar.

Dass solches möglich ist, dass so etwas anderseits aber auch verhindert werden könnte, das alles liegt in der Verantwortung der Regierungen in den nahöstlichen Ländern – ausnahmsweise nicht in jener der Europäer.

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