
Die erste Woche des Festivals hat zwar noch keinen eindeutig identifizierbaren Anwärter auf die Goldene Palme hervorgebracht. Dennoch überzeugt das Angebot, dessen stilistischer und thematischer Reichtum dem zeitgenössischen Filmschaffen eine solide Gesundheit bescheinigt.
Welten trennen – natürlich – Tom Cruise von der ukrainischen Bevölkerung, den Leidensweg eines Esels vom manierierten Familiendrama, wie es von Arnaud Desplechin in «Frère et sœur» gezeigt wird. In ästhetischer Hinsicht ist die Tatsache, dass die verschiedensten Bild- und Erzählformen in Cannes über dieselben Leinwände laufen, jedoch ein erfreuliches Symptom. Die neuen technischen Mittel, die der audiovisuellen Produktion zur Verfügung stehen, haben auch das Spektrum der vermittelten Seherfahrungen erweitert. Die klassische Grammatik des Films hat an Autorität eingebüsst, ein Verlust ist dies jedoch nicht: Solange die Filme der Diversität der erzählten Themen und Realitäten Rechnung tragen, sollte sich die Diskussion um die Zukunft des Kinos erübrigen.
«Hi Han»
Eine eklatante Demonstration dieser neugewonnen Freiräume liefert der über achtzigjährige Jerzy Skolimowski, der mit «Hi Han» (im internationalen Verleih: «EO») an Robert Bressons Drama um das Schicksal eines Esels anknüpft. Skolimowski hatte sich 1982 mit dem politisch feinsinnigen «Moonlighting» in Cannes den Drehbuchpreis geholt und 1986 in Hollywood die Siegfried-Lenz- Adaptation «The Lightship» drehen können. 1989 folgte – nach Iwan Turgenew – «Torrents of Spring». «Au hasard Baltazar» von Bresson sei der einzige Film, der ihn «zu Tränen gerührt» habe, erklärte der Pole seinen Wunsch, dem französischen Klassiker seine Reverenz zu erweisen, und der Kreuzweg, den er den Esel absolvieren lässt, zeigt, dass seine Sympathien dem Tier gegenüber intakt geblieben sind.
«Hi Han» wird Skolimowski vermutlich einen Ruf als Misanthropen eintragen: die Menschen, denen der Film auf seiner Odyssee von Polen nach Italien begegnet – Nerzhändler, Hooligans und Lastwagenfahrer, aber auch Tierschützer und zum Schluss eine unterkühlte Isabelle Huppert – scheinen alle ihren niedrigsten Instinkten zu gehorchen. Diese etwas kurz gedachte Abrechnung mit der Espèce humaine kontrastiert allerdings wiederum mit den überaus grosszügig gefilmten Szenen, die die subjektive Sicht des Esels zeigen. Die rasanten Kamerafahrten, Luftaufnahmen und monochromatischen Traumbilder, von einer vibrierenden Tonspur begleitet, erinnern an die Ästhetik des Experimentalfilms: Der Schnitt ist abrupt, die Blickachse schwankt, die pulsierenden Lichtquellen blenden. Als das arme Grautier am Ende in einem Schlachthof verschwindet, haben auch wir feuchte Augen.
«L’envol»
«L’envol» des Italieners Pietro Marcello, der versucht, einen im Ersten Weltkrieg beschädigten Soldaten mit der Menschheit zu versöhnen, erweist sich in visueller Hinsicht als ähnlich erfindungsreich. Das märchenhafte Ambiente, in das Marcello die normannische Dorflandschaft taucht, ist in erster Linie der subtilen Montage von gedrehten Sequenzen und kolorierten Archivaufnahmen geschuldet. Wie bereits in «Martin Eden», seiner in Neapel gedrehten Jack-London-Variation, entsteht daraus ein Verfremdungseffekt, der den Bildern ihre naturalistische Verankerung nimmt und sie zum Spiegel einer Traumwelt macht. Gegen das Ende von «L’envol» wird die adoleszente Tochter des Soldaten nach einem Flussbad im weissen Kleid auf einen Baum klettern, um sich in der Abendsonne zu trocken: die Szene, zwischen Phantasieprojektion und Hommage an Jacques Demy oszillierend, wird vermutlich zu den am feinsten ziselierten Frauenporträts des Festivals zählen.
«Mariupolis 2»
Bisweilen wird die filmspezifische Sprache allerdings auch auf die Probe gestellt. «Mariupolis 2» von Mantas Kvedaravicius besteht aus einer Assemblage von nahezu ungekürzten Sequenzen, die nach dem gewaltsamen Tod des Regisseurs in Form eines knapp zweistündigen Rohschnitts präsentiert wurde. Während mehrerer Tage begleitet die Kamera eine Gruppe Ukrainer, die in einer mirakulöserweise intakten Baptistenkirche Unterkunft gefunden haben. Die umliegende Ruinenlandschaft wird zum Dekor einer gespenstischen Inversion aller Werte: um einen Dieselgenerator aus einem zerbombten Haus schaffen zu können, müssen erst zwei Leichen aus dem Eingang gezogen werden, nachts ist der Feuerschein so intensiv, dass der Horizont zu glühen scheint. Später sehen wir, wie ein Züchter seine Tauben, die auf das Dach ihres zerstörten Schlags zurückkehrten, zu füttern versucht.
Ist dies noch (oder bereits) ein Dokumentarfilm? Die Wirklichkeit, auf die er sich bezieht, gehört bereits der Vergangenheit an, man hat den Eindruck, einen verloren gemeinten Brief zu lesen. Und dennoch stellt sich die Frage nach der Relevanz der Bilder nie: ihre Existenz allein macht sie einzigartig und notwendig, als Zeugnis einer untergegangenen Welt haben sie keinem filmischen Kriterium zu gehorchen.
«Armageddon Time»
Nachgerade klassisch in seinem verhaltenen Gestus erscheint «Armageddon Time» von James Gray, der im Wettbewerb vertreten ist. Philip Roth, verfilmt von Woody Allen, ist man versucht zu sagen: Grays autobiographisch gefärbte Chronik konzentriert sich ganz auf die Figur des jungen Paul Graff, den zweiten Sohn einer jüdischen Familie aus dem niederen Mittelstand, den die Freundschaft mit einem in desolaten Verhältnissen aufwachsenden schwarzen Jungen auf die moralische Probe stellt. Als sie beim Cannabis-Rauchen erwischt werden, wird Paul von seinen Eltern auf eine konservative Privatschule geschickt, die finanziell vom Immobilienunternehmer Fred Trump unterstützt wird.
Bietet das politische Rauschen den historischen Hintergrund (die Handlung beginnt mit der Wahl Ronald Reagans), so fungiert die Shoah als das schlagende Herz des Films: die Gutenachtgeschichten, die Pauls geliebter Grossvater erzählt (Anthony Hopkins, grossartig), gründen in der osteuropäischen Familiengeschichte und halten die Erinnerung an die Pogrome wach. In seinen spektakulärsten Inszenierungen – «The Yards» und «We Own the Night» – hatte Grey die Gewissensprobleme der kriminellen Halbwelt nachgezeichnet, hier besteht Pauls Dilemma darin, sein angehendes Leben in der amerikanischen Elite mit der Werteskala und dem Erfahrungsschatz des jüdischen Schtetls in Einklang zu bringen.
«Frère et sœur»
Auf die familiäre Erbschaft konzentriert sich auch Arnaud Desplechin in «Frère et sœur», auch wenn seine ungleich neurotischeren Figuren lange in der Konfrontation verharren. Marion Cotillard, die eine erfolgreiche Theaterdiva spielt, überfliegt und rettet vermutlich auch den Film: der Hass, den Alice und ihr Bruder Louis (Melvil Poupaud) füreinander empfinden, bleibt genauso wenig erklärt wie ihre finale Versöhnung. Dass diese immerhin nachvollziehbar ist, hat Desplechin vor allem seiner Actrice zu verdanken: In den zahlreichen Rückblenden, die Einblicke ins familiäre Trauma geben, kann sie genügend Nuancen zum Ausdruck bringen, um die Exzesse und Schwächen des Drehbuchs (momentan) vergessen zu lassen.
Desplechin, dessen über ein Dutzend Langspielfilme bislang stark von Joyce und Lacan geprägt waren, hat hier offenbar den Versuch unternommen, seine Überväter hinter dem «wahren Leben» zurücktreten zu lassen. Die Idee mag ihr Potential haben – und doch zählt der Regisseur am Schluss auf die Überzeugungskraft des Spielfilms. Nach einer Ellipse wird Louise in Afrika verschwinden, in einer Strohhütte, befreit von allem Kunstballast. Die Szene ist überraschend und verstörend, doch wenn man sie nach einigem Zögern akzeptiert, so weil der Magnetismus der Fiktion trotz allem intakt bleibt.
«Top Gun: Maverick»
Tom Cruise hat paradoxerweise den Beweis geliefert, dass die Zeit auch stehenbleiben kann. «Top Gun: Maverick» von Josef Kosinski, die Folge von Tony Scotts «Top Gun» von 1996, scheint nicht nur auf wundersame Weise den Alterungsprozess des Stars aufzuheben, auch das virtuose Zelebrieren der Zweckhochzeit von Hollywood und US-Air-Force, im aktuellen Kontext eher kontraintuitiv, erweist sich als ein visuelles Vergnügen. Nachdem Cruise im Helikopter in Cannes landete, um seine Produktion persönlich vorzustellen, überflog die Kunstflugstaffel der französischen Luftwaffe den Festivalpalast. Als er gefragt wurde, warum er seine Stunts auch heute noch selbst macht, antwortete er mit der Gegenfrage: «Hätten Sie Gene Kelly gefragt, warum er tanzt?»