Zum ersten Mal seit 2019 wird die diesjährige Edition des Internationalen Filmfestivals von Cannes wieder unter nahezu gewohnten Bedingungen stattfinden können. Vor zwei Jahren wurden die Produktionen des Wettbewerbs angesichts der Unmöglichkeit, das Festival an der Côte d’Azur abzuhalten — und die Filme von einer Jury beurteilen zu lassen —, mit dem kollektiven Gütesiegel «Sélection officielle» auf den Filmmarkt geschickt.
2021 konnte die Palme d’Or zwar in Cannes verliehen werden, allerdings nur vor einem spärlichen Publikum und, aufgrund gesundheitspolitischer Erwägungen, mit zweimonatiger Verspätung im Juli.
Ungebrochene Strahlkraft
Mit 35’000 Akkreditierungen hat die 75. Ausgabe des Festivals, das am 17. Mai mit «Coupez!» von Michel Hazanavicius eröffnet wurde, das Besucherniveau von 2019 jedoch beinahe wieder erreicht. Auch Hollywood ist erneut standesgemäss vertreten – die «Ehrenpalme», die, ebenfalls dienstags, an Forest Whitaker verliehen wurde, zeigt, dass die Strahlkraft des Festivals ungebrochen bleibt. Und dass «Cannes» Konstanz beweist: 1988 hatte der afro-amerikanische Ausnahmeschauspieler bereits für seine Interpretation von Charlie Parker in Clint Eastwoods «Bird» einen Darstellerpreis entgegennehmen können. Das hörbarste Echo von Gegenwart wiederum wird das Festival wohl den Produktionen zu verdanken haben, die von den Folgen des Kriegs in der Ukraine berichten.
Der Platz, den die russische Invasion im mentalen Raum des Festivals einnehmen wird, zeigte sich bereits während der Eröffnungsfeier, die mit einem live übertragenen Aufruf von Wolodimir Selenskyj einen überraschenden Abschluss fand. Mit deutlichen Worten und einem Verweis auf den eloquenten Friedensappell in «The Great Dictator» redete der ukrainische Präsident dem Publikum ins Gewissen und fand auch den Übergang, der es dem Festival erlaubte, die Tagesordnung wiederaufzunehmen: Es brauche «einen neuen Chaplin, der beweist, dass der Film nicht stumm ist».
Rückkehr zum Bewährten
Liest man «Coupez!» als Symptom der (kinematografischen) Stimmungslage, so könnte man in der Inszenierung das Verlangen nach einer Rückkehr zum Bewährten erkennen: Michel Hazanavicius’ Zombie-Komödie über die aus dem Ruder laufenden Dreharbeiten eines Horrorfilms erweist sich nicht nur als die Neuauflage einer japanischen Erfolgsproduktion («One Cut of the Dead», 2017) sie schliesst auch sozusagen nahtlos an Jarmuschs Genrevariation «The Dead Don’t Die» an, die das Festival vor drei Jahren einläuten konnte. Die lebendigen Toten werden einem ironischen Blick unterworfen, die Filmcrew erweist sich als eine Gruppe von Losern, in deren Gestikulation man eine Hommage an den Amateurismus sehen darf.
Wird «Coupez!» eine bleibende Spur hinterlassen? Schätzenswert ist jedenfalls der Dialog der filmischen Handlung mit dem anschliessenden Making-of, das der Inszenierung ihren Rhythmus und vermutlich auch ihre Raison d’être verleiht: Mehr noch als das Theaterblut wird hier die Familie zelebriert, die sowohl inner- wie ausserhalb der Filmwelt Wunder zu vollbringen vermag.
Immerhin scheinen sich auch andere Namen an bewährten Themen messen zu wollen. Unter den Filmen, die sich die Jury unter der Leitung des Schauspielers Vincent Lindon ansehen wird, zählt der von Robert Bressons «Au hasard Balthasar» inspirierte (und wunderbar onomatopoetisch klingende) «Hi-han» des Polen Jerzy Skolimowski sowie «Armageddon Time» (mit Anthony Hopkins und Anne Hathaway), in dem James Gray dreissig Jahre nach seinem Mafiadrama «Little Odessa» in einem – nun persönlichen – Rückblick auf seine Jugendjahre im jüdischen Immigrantenmilieu von Brooklyn zurückkommt.
Zeitbezüge
Der Franzose Arnaud Desplechin, mit «Frère et sœur» im Wettbewerb, knüpft an die Familienchronik an, die seiner Filmographie – etwa in «Un conte de Noël» (2008) und «Trois souvenirs de ma jeunesse» (2015) – die vielleicht relevantesten Impulse verlieh. Valeria Bruni-Tedeschi, die sich mit «Les Amandiers» um die goldene Palme bewirbt, erinnert mit ihrem Titel an das gleichnamige Theater in der Pariser Vorstadt Nanterre, in dem sie in den Achtzigerjahren unter der Regie von Patrice Chéreau ihre Initiation als Schauspielerin erlebte. David Cronenberg, der mit seinen um die Körpermutationen zentrierten Werk dem letztjährigen Hauptgewinner, «Titane», nicht nur den Stoff, sondern auch die Bildsprache vorgegeben hat, ist dieses Jahr mit «Les crimes du futur» vertreten – eine «Science-Fiction-Geschichte», die allerdings auch «autobiographische» Elemente enthalte, wie der Regisseur nicht ohne Ironie im Interview verspricht.
Die Versuchung, die eigene Arbeit einem zweiten, zeitgerechten Blick zu unterziehen, ist auch in den Nebensektionen nicht zu übersehen. Sowohl Marco Bellocchio als auch Olivier Assayas ergreifen im Programmsegment «Cannes Première» die Gelegenheit, die Themen früherer Inszenierungen im Serienformat neu aufzurollen: Der Italiener kommt in der fünfstündigen Produktion «Esterno notte» auf die Entführung und die Ermordung Aldo Moros zurück, die er 2003 für die Filmleinwand bereits in «Buongiorno, notte» nachgezeichnet hatte. Assayas zeigt die acht Episoden seines televisuellen Remakes von «Irma Vep», einer 1996 entstandenen Kinoproduktion (die sich ihrerseits als Variation von Louis Feuillades Serienfilm «Vampires» von 1915 verstand).
Dezentrierte Perspektiven sind wohl vor allem in der Programmreihe «Quinzaine des réalisateurs» zu erwarten. Lionel Baier, der Schweizer Filmemacher aus der Romandie, hat «La dérive des continents (au sud)» in Sizilien gedreht, wo er die erratische Flüchtlingspolitik der europäischen Behörden mit in einer explosiven Mutter-Sohn-Beziehung kollidieren lässt. «The Dam», inszeniert vom libanesischen Künstler Ali Cherri, ist im Sudan am wüstenhaften Ufer des Nils entstanden und erinnert in seinen zurückhaltenden, metaphorisch aufgeladenen Einstellungen an die Arbeit von Steve McQueen.
Ethische Herausforderung der Zeit
Ins Herz der Aktualität wird der im Rahmen einer «Séance spéciale» programmierte «The Natural History of Destruction» von Sergei Loznitsa zielen, trotz seines Umwegs über die Literaturgeschichte: Der Dokumentarfilm gründet auf Sebalds «Luftkrieg und Literatur» und dessen Auseinandersetzung mit den alliierten Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg. Zu rechnen ist wohl mit einem politisch aufgeladenen «J’accuse»: 2014, beziehungsweise 2018 hatte der in Weissrussland geborene Ukrainer sowohl in der Dokumentation «Maidan» als auch in der fiktiv überhöhten Freske «Donbass» jeweils mit Engagement und Wut gegen die Konfiskation von Recht und Volkswillen Stellung bezogen.
Einen entmutigenden Bericht vom Zustand der Welt ist schliesslich auch von «Mariupolis 2» des litauischen Dokumentaristen Mantas Kvedaravicius zu erwarten. Der diplomierte Anthropologe hatte bereits vor fünf Jahren in «Mariupolis» von der ukrainischen Hafenstadt berichtet, die damals – die erste Sequenz des Films gibt ein eloquentes Zeugnis davon – «acht Schallsekunden» von der Front im Donbass entfernt war. Anfangs April wurde sein Tod gemeldet, offenbar wurde er beim Verlassen der Stadt, in der er nun den offenen Krieg dokumentieren wollte, von einer Kugel getroffen. Die Umstände seines Todes sind unklar, es gibt auch Stimmen, die von einer eigentlichen Hinrichtung sprechen.
«Mariupolis 2» besteht aus den aus dem Kriegsgebiet geretteten Sequenzen, die von Kvedaravicius’ Cutterin Dunia Sichov in Form gebracht worden sind. Er wollte «den Herzschlag des Lebens» filmen, wird der Regisseur im Programmheft zitiert. Mit der Entscheidung, die Fragmente des Films in einer kurzfristig organisierten «Séance spéciale» zu projizieren, zeigt sich Cannes nicht nur der ästhetischen, sondern auch der ethischen Herausforderung der Zeit gewachsen – ein «festival artistique et citoyen», wie es der Jurypräsident Lindon in seiner Einführungsrede formuliert hat.