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Tell

14. April 2022
Christoph Kuhn

Ein schrecklicher Krieg findet nicht gar so weit von uns entfernt statt. Ein Krieg mit ungewissem Ausgang und mit ungewissen Folgen – auch für uns. Es überrascht nicht, dass in solchen Zeiten auch der Tell wieder einmal in Erscheinung tritt in Gesprächen, Artikeln, Reden: Schillers Theater-Tell, unser mythischer Tell, der Tell als Projektionsfläche. Es ist natürlich nur ein Zufall, aber schon ein passender, dass sich unter den Neuerscheinungen auf dem Büchertisch eine findet, die den lapidaren Titel «Tell» trägt. 

Das Buch stammt vom Schweizer Autor Joachim B. Schmidt und es demontiert unseren Heldenmythos, macht aus dem Armbrustschützen einen brummigen, äusserst wortkargen, zutiefst unglücklichen, von düsteren Erinnerungen und Schuldgefühlen geprägten und getriebenen Charakter.

So einen demontierten oder dekonstruierten Tell haben wir übrigens schon. Fünfzig Jahre sind es her, da veröffentlichte Max Frisch seinen «Wilhelm Tell für die Schule», einen höchst amüsanten, satirischen Text, in dem der Tell ironisiert und der Gessler schon fast rehabilitiert wird, ein Text, der bei Patrioten und kalten Kriegern auf gar keine Begeisterung stiess. Tell stand schon immer für die wehrhafte, die unvergleichliche, die sich selbst genügende, neutrale Schweiz. Da grenzt es an ein Sakrileg, wollte man diesen Tell in einen sturen Wüterich oder einen psychisch angeschlagenen Brummbären verwandeln.

«Der Starke ist am mächtigsten allein» weiss Schillers Tell. «Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst» gehört auch zu seinen Weisheiten. Auf die Nato würde er pfeifen, auf die EU sowieso, mit Stauffachers Überzeugung – «Verbunden werden auch die Schwachen mächtig» – kann er nichts anfangen. In der «NZZ am Sonntag» vom 10. April wird der Regisseur Milo Rau interviewt, der zurzeit am Zürcher Schauspielhaus den Tell inszeniert, den von Schiller oder was er davon übrig lässt. Abgesehen davon, dass Rau unseren Nationalhelden «entgeschlechtlichen» will, was immer das heissen mag, tönt das Interview höchst spannend.

Was macht Rau, ein bewährter Mythenbearbeiter, mit dem Mythos Tell, mit dem Schweizer Urmythos, mit dem Krieg und der Zeitenwende, in die sein Projekt zufällig hineingerät? «In Bezug auf den Nationalmythos sind wir in der komplexen Affirmation angekommen, in dem die Blödelei neben der Liebe zur Schweiz stehen kann», sagt Rau und verspricht uns einen Tell, der «an allen Ecken wackelt».

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