Ohne Rücksicht auf Kollateralschäden bombardieren die Russen Dörfer und Städte im Donbass und legen ganze Landstriche in Schutt und Asche. Militärisch nützt ihnen das wenig. Betroffen sind vor allem Zivilpersonen. Jeden Tag werden Tausende aus dem Osten des Landes evakuiert. Im Bild eine Frau im Bergbaustädtchen Pokrowsk, die im Zug auf die Fahrt in den Westen wartet.
Vor dem Fall von Sewerodonezk
Der Fall der ostrussischen Stadt Sewerodonezk wird seit Wochen vorausgesagt. Jetzt erklärt das Washingtoner «Institute for the Study of War», ein amerikanischer Thinktank, dass «die russischen Streitkräfte wahrscheinlich in der Lage sein werden, Sewerodonezk in den kommenden Wochen einzunehmen, allerdings um den Preis, dass sie den Grossteil ihrer verfügbaren Kräfte in diesem kleinen Gebiet konzentrieren müssen».
Am Montag hatten die russischen Soldaten, unterstützt von pro-russischen Separatisten, Metolkine, einen südöstlichen Vorort von Sewerodonezk eingenommen (siehe Karte). Dies bestätigt Sergiy Haidai, der Militärgouverneur der Provinz Luhansk. Viele ukrainische Kämpfer haben sich nach Angaben der russischen Agentur Tass ergeben. Überprüfen lässt sich das nicht.
Das Gebiet um Sewerodonezk und Lyssytschansk ist zu etwa drei Vierteln von russischen Streitkräften eingekesselt. Da alle Brücken, die zur Stadt führen, zerstört sind, müssen die ukrainischen Truppen über Dorfstrassen Nachschub in die Stadt schaffen. Das ist oft unmöglich, da die Zufahrtswege von den Russen oft pausenlos beschossen werden.
CNN schreibt: «In einem Feldzug, dem es an Beweglichkeit und Phantasie mangelt, haben die Russen auf eine Haupttaktik zurückgegriffen: überwältigendes indirektes Feuer auf alle ukrainischen Stellungen, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden. Das Ziel ist es, nichts stehen zu lassen, was verteidigt werden kann.»
Die New York Times schreibt am Dienstag
«Keine der beiden Seiten wird die volle Kontrolle über die Region erlangen, da ein dezimiertes russisches Militär einem Gegner gegenübersteht, der mit immer raffinierteren Waffen ausgerüstet ist.
Russland hat zwar Territorium in der östlichsten Region Luhansk erobert, kommt aber nur schleppend voran. Die Ankunft amerikanischer Langstreckenartilleriesysteme und die Schulung der Ukrainer im Umgang mit diesen Systemen dürfte der Ukraine in den kommenden Kämpfen helfen, so General Mark A. Milley, der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs.»
Kampf um Toschkiwka
Etwa 15 Kilometer südlich der Städte Sewerodonezk und Lyssytschansk liegt Toschkiwka, eine Siedlung mit etwa 4’000 Einwohnern. Sie liegt auf dem Verteidigungsgürtel der Ukrainer.
Die Russen meldeten am Sonntag die Eroberung der Siedlung, was ihnen einen wichtigen strategischen Vorteil bringen würde. Sergjy Haidai sagt jedoch, die Russen seien zurückgeschlagen worden. Die Lage ist unübersichtlich.
Am Montagnachmittag war immer noch unklar, welche Seite die Kontrolle über Toschkiwka hat. Ramsan Kadyrow, der moskautreue Tschetschenen-Führer, verkündete in einem Beitrag auf Telegram die «Befreiung» der Stadt. Die Behauptung konnte nicht sofort verifiziert werden.
Sollten die russischen Streitkräfte die Kontrolle über Toschkiwka erlangen, kämen sie Lysytschansk und Sewerodonezk ein ganzes Stück näher – und, was noch wichtiger ist, sie könnten die ukrainischen Nachschublinien zu beiden Städten bedrohen, so dass Tausende ukrainischer Truppen Gefahr laufen würden, abgeschnitten zu werden.
Videos, die in den letzten Tagen ins Internet gestellt wurden, zeigen eine Kolonne offenbar russischer Panzer, die auf den westlichen Rand von Toschkiwka vorrückt.
«Extrem schwierig», «dynamisch»
Die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maliar sagte am Montag, dass der Kampf in der östlichen Region Luhansk «sehr schwierig» sei, und dass es angesichts der «dynamischen» Natur der Kämpfe «extrem schwierig» sei, eine Vorhersage zu treffen.
«Jede halbe Stunde ändert sich die Situation.» Solange weder die ukrainischen noch die russischen Streitkräfte die vollständige Kontrolle über eine Stadt oder eine Dorfgrenze hätten, sei es unmöglich zu sagen, wie die Lage sei.
Sie sagte, sie wolle keine Vorhersagen über den Ausgang der Schlacht um Sewerodonezk machen. In Bezug auf Personal und Waffen seien die russischen Streitkräfte im Vorteil.
Erschöpfte russische Armee?
Die Strassenkämpfe in der Stadt Sewerodonezk und in ihrer Umgebung haben auch auf russischer Seite viele Opfer gefordert – offenbar weit mehr als auf ukrainischer Seite. Nach monatelangen Kämpfen sei die russische Armee in der Ukraine erschöpft und stosse an die Grenzen ihrer Ressourcen, sagte Andriy Zagorodnyuk, ein ehemaliger Verteidigungsminister der Ukraine. Der ukrainische Ansatz bestehe darin, jeden Vorstoss so kostspielig wie möglich zu machen, sagten er und andere Analysten.
«Trotz der prekären Lage hat sich die Ukraine entschieden, um diese Städte zu kämpfen, um die russischen Kräfte zu erschöpfen», sagte Michael Kofman, Leiter der Russlandstudien bei CNA, einer Forschungsgruppe in Virginia. In einer kürzlich veröffentlichten Analyse erklärte er, dass die Russen, selbst wenn sie Sewerodonezk erobern könnten, aufgrund ihrer Personalknappheit nicht in der Lage sein werden, ihren Vormarsch fortzusetzen.
Sieg um jeden Preis
In Sewerodonezk werfen die Russen alles in die Schlacht, was sie haben, sagt Sergiy Haidai. Täglich würden Hunderte neuer Soldaten eintreffen. «Unter dem politischen Druck, einen Sieg zu erringen». so der ehemalige Verteidigungsminister Zagorodnyuk, werfe das russische Militär rücksichtslos alle Ressourcen, die sie haben, in den Kampf. «Sie müssen ihrer Führung zeigen, dass sie etwas erreicht haben», sagte er.
Die letzten Hochburgen
Die Zwillingstädte Sewerodonezk und Lyssytschank sind die letzten Hochburgen in der Provinz Luhansk, die von russischen Truppen noch nicht oder nicht vollständig eingenommen wurden. Die beiden Städte liegen am Donez-Fluss. Die drei Brücken, die sie miteinander verbanden, sind zerstört worden. Das östlich des Flusses gelegene Sewerodonezk ist zu 70 Prozent in russischer Hand. Lyssytschansk ist noch nicht erobert, bereitet sich aber auf einen Grossangriff vor. Am Sonntag hatten ukrainische Truppen in Teilen von Lyssytschansk, das auf einem Hügel liegt, neue Verteidigungsanlagen ausgehoben und zerstörte Fahrzeuge platziert, um einige Strassen zu blockieren.
Deserteure
Die russische Armee kämpft nicht nur mit der schlechten Moral der Truppe, sondern auch mit einer zunehmenden Zahl von Deserteuren. In einzelnen Fällen hätten ganze russische Einheiten Befehle verweigert. Und es sei zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Offizieren und ihren Truppen gekommen, heisst es in einem vertraulichen Bericht der ukrainischen Regierung. «Die Moralprobleme in den russischen Streitkräften sind wahrscheinlich so gravierend, dass sie die Fähigkeit Russlands einschränken, seine operativen Ziele zu erreichen», so der Bericht.
Doch auch auf ukrainischer Seite hätten Soldaten desertiert. Weitere Angaben dazu liegen nicht vor.
Russland warnt Litauen
Die russische Exklave Kaliningrad (Königsberg) liegt zwischen den beiden EU- und Nato-Mitgliedern Polen und Litauen. Versorgt wird die Exklave durch Eisenbahn- und Gaspipelines von Russland her.
Der baltische Staat Litauen hat letzte Woche angekündigt, dass er den Bahntransport von Gütern, die den EU-Sanktionen unterliegen, vom russischen Festland nach Kaliningrad verbietet. Die Liste umfasst Kohle, Metalle, Baumaterialien und Spitzentechnologie.
Das russische Aussenministerium hat nun die sofortige Aufhebung der «offen feindseligen» Beschränkungen gefordert.
«Sollte der Gütertransit zwischen dem Kaliningrader Gebiet und dem übrigen Territorium der Russischen Föderation durch Litauen in naher Zukunft nicht vollständig wiederhergestellt werden, behält sich Russland das Recht vor, Massnahmen zum Schutz seiner nationalen Interessen zu ergreifen», erklärte das russische Aussenministerium.
Das Ministerium erklärte, es habe den litauischen Geschäftsträger in Moskau vorgeladen, um gegen die «provokativen» und «offen feindseligen» Massnahmen zu protestieren.
Zuvor hatte der Kreml am Montag erklärt, die Entscheidung Litauens sei «beispiellos» und verstosse «gegen alles, was es gibt».
«Die Situation ist mehr als ernst und erfordert eine sehr gründliche Analyse, bevor irgendwelche Massnahmen und Entscheidungen getroffen werden», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gegenüber Reportern.
Der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis verteidigte den Schritt und erklärte, sein Land setze lediglich die von der EU, deren Mitglied es ist, verhängten Sanktionen um.
Er sagte, die Massnahmen seien nach «Konsultationen mit der Europäischen Kommission und gemäss deren Richtlinien» ergriffen worden.
Russische Falschmeldung?
Die Ukraine hat Meldungen dementiert, wonach den Russen ein grosser Schlag gegen ukrainische Generäle gelungen sei. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums hatte erklärt, die russischen Truppen hätten im Gebiet Dnipropetrowsk einen ukrainischen Führungsgefechtsstand mit Raketen zerstört. Dabei seien «mehr als 50 Generäle und Offiziere» getötet worden. Die Ukraine spricht von einer «der üblichen russischen Falschmeldungen».
Getreideblockade ist ein «Kriegsverbrechen»
EU-«Aussenminister» Josep Borrell bezeichnet die russische Blockade der ukrainischen Getreideexporte als «echtes Kriegsverbrechen». Die Sanktionen der EU gegen Russland hätten keine Rolle bei der weltweiten Nahrungsmittelkrise gespielt. Russlands Krieg in der Ukraine könnte nach Angaben der Vereinten Nationen bis zu 49 Millionen Menschen in eine Hungersnot oder hungerähnliche Zustände stürzen, da er verheerende Auswirkungen auf die weltweite Nahrungsmittelversorgung und die Preise hat.
Muratow versteigert Nobel-Medaille
(siehe: Bild des Tages)
Dmitrij Muratow, der Chefredaktor der unabhängigen russischen Zeitung «Nowaja Gaseta» hat seine Friedensnobelpreismedaille für 103,5 Millionen Dollar versteigert. Muratow sagte, das gesamte Geld aus dem Verkauf werde den Flüchtlingen des Krieges in der Ukraine zugutekommen.
Muratow wurde 2021 für seinen Einsatz für die Meinungsfreiheit in Russland mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Nowaja Gaseta, eine der einzigen unabhängigen Zeitungen im Land, stellte im März, kurz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, ihren Betrieb ein. Wer die Medaille ersteigert hat, ist nicht bekannt.
Auf Muratow war im April dieses Jahres ein Säureanschlag verübt worden, als er in einem Bahnhof in Moskau einen Zug nehmen wollte.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21