
In der strategisch wichtigen Stadt Sewerodonezk wird «um jeden Meter gekämpft». Die letzte Brücke, die über den Donez-Fluss in die Stadt führt, ist am Montag zerstört worden. Damit ist Sewerodonezk völlig eingekesselt. Den in der Stadt noch kämpfenden Ukrainern bleibt nach russischen Angaben nur noch eins: «Kapitulieren oder sterben».
Drei Brücken führten von der Zwillingsstadt Lyssytschansk über den Donez-Fluss in die ostukrainische Stadt Sewerodonezk. Sie liegt am östlichen Ufer des Flusses und Lyssytschansk am westlichen Ufer.
Zwei Brücken wurden schon früher zerstört, die letzte wurde jetzt am Montag gesprengt. Damit ist die Stadt «von der Aussenwelt abgeschnitten», erklärte Serhij Haidai, der Gouverneur der Provinz Luhansk.
Da die Stadt jetzt eingekesselt ist, sei es unmöglich, den ukrainischen Verteidigern Waffen, Munition und anderen Nachschub zu liefern. Eine Evakuierung der noch verbliebenen gut 10’000 Zivilisten sei nicht mehr möglich. Auch Verwundete könnten nicht aus der Stadt transportiert werden. Die Bewohner seien gezwungen, unter «extrem schwierigen Bedingungen» zu überleben.
Eduard Basurin, der Vize-Militärchef der sezessionistischen «Volksrepublik Donezk» forderte die Ukrainer in Sewerodonezk auf, die Waffen zu strecken. Es bleibe den ukrainischen Truppen nur eins: «Kapitulieren oder sterben». Und: «Ukrainische Divisionen, die dort sind, bleiben für immer dort», sagt er.
Die zerstörte, dritte Brücke war die letzte Strassenverbindung vom ukrainisch dominierten Territorium im Westen nach Sewerodonezk. Die Brücke war allerdings schon schwer beschädigt und nur noch schwer passierbar.
Im Gegensatz zu den Aussagen von Gouverneur Haidai erklärten ukrainische Offiziere, es könne weiterhin Nachschub in die Stadt geschafft werden. Wie? Über Boote und Ponton-Brücken? Erschwert würde dies, weil beide Ufer des Donez-Flusses pausenlos beschossen werden. Der Fluss, der zwischen Sewerodonezk und Lyssatschansk fliesst, ist an dieser Stelle 50 Meter breit.
Geplanter Grossangriff auf Lyssytschansk
Lyssytschansk liegt am anderen Ufer des Flusses auf einer Anhöhe. Die Stadt wird von den Russen seit Wochen beschossen, befindet sich aber noch immer in ukrainischen Händen.
Die Zerstörung der Brücke könnte Moskau helfen, Sewerodonezk einzunehmen. Andererseits könnte damit ein geplanter russischer Grossangriff auf das gegenüber liegende Lyssytschansk erschwert werden, da die Russen für einen solchen Angriff den Fluss überqueren müssen.
Die Ukraine hat sich bisher nicht dazu geäussert, wer die Brücke zerstört hat.
Die ukrainischen Verbände waren schon am Freitag aus dem Stadtzentrum in die Aussenbezirke gedrängt worden. Laut ukrainischen Beamten befinden sich noch etwa 70% der Stadt unter russischer Kontrolle.
Mit der Einnahme von Sewerodonezk und der nahe gelegenen Stadt Lyssytschansk würde Moskau die Kontrolle über die gesamte Region Luhansk erlangen.
Klage über langsame Waffenlieferung
Ein Berater des ukrainischen Verteidigungsministers beklagt, dass die versprochenen westlichen Waffen «nicht so schnell eintreffen, wie sie sollten».
«Wir sind etwas beunruhigt, weil das Ausmass der russischen Bedrohung, mit der wir und Europa konfrontiert sind, nicht ausreichend verstanden wird», sagte Yuriy Sak.
In Sewerodonezk wäre die «Abwehr des Feindes viel effizienter gewesen, wenn wir mehr schwere Waffen erhalten hätten», sagte er. Der russische Vorteil sei überwältigend. «Im Durchschnitt schiessen die Russen etwa 50’000 Schuss pro Tag ab, und jetzt ist es buchstäblich ein Trommelfeuer aus Mörsergranaten, Luftangriffen und Raketenangriffen.
«Selbstgefälligkeit», «Selbstzufriedenheit»
«Es scheint eine gewisse Selbstzufriedenheit, eine Selbstgefälligkeit bei unseren westlichen Partnern zu herrschen, dass die Waffenlieferungen, die die Ukraine bereits erhalten hat, ausreichen, um den Krieg zu gewinnen», sagte Damien Magrou, Sprecher der Internationalen Legion zur Verteidigung der Ukraine, auf einer Pressekonferenz.
Doch: «Die Waffenlieferungen reichen nicht annähernd aus, um uns zu befähigen, die Russen auf dem Schlachtfeld zu besiegen», sagte er.
«Bitte schicken sie weiterhin schwere Artillerie, schwere Waffensysteme, Langstreckenraketen, Anti-Schiffs-Raketen. All diese Dinge werden heute auf dem Schlachtfeld benötigt. Sie wurden auch gestern gebraucht. Je länger wir warten, desto mehr Tote wird es geben.»
«Katastrophale Lage» in Mariupol
Mehr als 100’000 Menschen sind im besetzten Mariupol eingeschlossen, berichtet der abgesetzte Bürgermeister der Stadt, Wadym Boichsenko, gegenüber der BBC.
«Sie haben kein sauberes Wasser. Es gibt keine Lebensmittel, keinen Strom und keine Medikamente. Krankenhäuser wurden beschädigt, Ärzte wurden getötet. Die Menschen leben dort nicht, sie überleben und kämpfen um Nahrung», so Boischenko, der die Stadt verlassen hat.
Leichen würden nicht weggeräumt. Viele liegen noch immer unter den Trümmern. «Es gibt keine Spitäler, keine Ärzte. Die Russen stehlen die Ausrüstung von Krankenhäusern, die bei den Kämpfen nicht beschädigt wurden, und bringen sie nach Donezk.» Die Stadt sei abgeriegelt. Niemand werde rein- oder rausgelassen.»
Der russische Verteidigungsminister Schoigu sagte am Sonntag, der Hafen von Mariupol sei wieder funktionstüchtig.
«Verräter in Mariupol»
Pro-russische Verräter hätten zu Beginn der russischen Invasion in Mariupol mit den Russen zusammengearbeitet. Sie hätten wichtige Informationen bei der Belagerung und der Eroberung der Stadt den russischen und pro-russischen Streitkräften weitergegeben. «Sie wussten, wo sie bombardieren mussten. Es gab viele Verräter, die Koordinaten weitergaben. Alles, was wir hatten, alles, was als kritische Infrastruktur der Stadt gilt, wurde in den ersten sieben Tagen zerstört», sagte Boischenko der BBC.
«Es gibt 15 Stromversorgungen in der Stadt. Selbst der Bürgermeister wusste nicht, wo sie alle waren. Doch sie wussten es und haben innerhalb einer Woche alle 15 zerstört. Die Stadt hatte kein Licht mehr.»
Auch Wasserstellen, Kommunikationsleitungen und Lagerhäuser mit Lebensmitteln und Medikamenten wurden angegriffen, so Boichenko, der nach dem Fall aus Mariupol aus der Stadt geflüchtet war. Er vermutet, dass es sich bei den «Verrätern» um Abgeordnete der prorussischen Partei «Für das Leben sein» handelt. Sie regieren nun die Stadt.
Schwierige Identifizierung der Leichen
Bis zu 1’200 Leichen, von denen einige in Massengräbern gefunden wurden, sind noch nicht identifiziert worden, erklärt der Leiter der ukrainischen Nationalpolizei. Ihor Klymenko sagte der Nachrichtenagentur Interfax, dass im Zusammenhang mit dem Tod von mehr als 12’000 Menschen Strafverfahren eingeleitet wurden.
Etwa 75% der Toten seien Männer gewesen, etwa 2% Kinder und der Rest Frauen, sagte er. Allein in der Region Kiew starben mehr als 1’500 Zivilisten, wobei 116 Leichen in einem einzigen Grab in der Stadt Butscha gefunden wurden.
Die Strafverfolgungsbehörden fänden noch immer jede Woche mehrere Leichen, fügte er hinzu. Die Identifizierung sei ein mühsamer, langwieriger Prozess, weil viele Leichen in einem Zustand der Verwesung sind» und nicht identifiziert werden können, sagte er.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21